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Mein lieber Herr Baron,

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Es heist
sub littera
B. in dem berühmten
Autore classico,
auf deßen

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Bekanntschafft sich der kleine Herr Bruder freuet;

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Zweizeiler aus einer Schulfibel; zitiert auch in N III S. 207
Wie grausam ist der wilde Bär

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Wenn er vom Honigbaum kommt her.

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Sie wundern sich vielleicht, warum der Bär so viel Geschmack am Honig

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hat. Wie kann ich Ihnen das nun sagen, da ich nicht einmal von meinem

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eigenen daran, Ihnen Red und Antwort geben könnte? Vielleicht braucht

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seine Zunge diese Erqvickung des wegen, weil man erzählt, daß seine Jungen

24
Ov.
met.
15,379f.,
Gell. 17,10
; vgl. auch
Zimmermann,
Von dem Nationalstolze
, S. XXV, wo dieses Bild auf die Bearbeitung von Texten angewandt wird, mit Verweis auf eine Selbstbeschreibung Vergils.
so unförmlich zur Welt kommen, daß er nöthig hat selbige erst durch das

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Mährchen
nicht ermittelt
Lecken zu bilden. Bey dieser Gelegenheit fällt mir ein Mährchen von einer

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Bärin ein, die sich mehr Mühe gab, als sich eine Mutter von diesem Geschlecht

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jemals gegeben. Endlich vergieng ihr die Gedult, und sie sprach zu dem kleinen

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lebenden Klumpen vom Kinde, das vor ihr lag: Geh, Unart, wenn ich mir

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auch an dir die Zunge aus dem Schlunde leckte, so wirst du doch niemals so

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artig als ein Affe werden.

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Um nichts umsonst zu hören und zu sehen, suche ich aus jeder Sache, die

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mir vorkommt, was zu lernen und einen Nutzen für mich daraus zu ziehen.

33
Nachdem ich mich also lange genung gefragt hatte, wie ich diese kleine Fabel

34
auf mich selbst anwenden möchte, gab ich mir endlich folgende Antwort:

S. 267
Du würdest nicht klüger als diese Bärinn
ha
tte
ndeln
, wenn du die

2
Rauhigkeit und Unförmlichkeiten deines Naturells zu verwandeln dich bemühen

3
wolltest. Es würde mir niemals gelingen den mürrischen Ernst meiner

4
Vernunfft in den gaukelnden Witz eines Stutzers umzugießen. Laß diejenigen, die

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zu den Höfen großer Herren geboren sind, weiche und seidene Kleider tragen;

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Johannes der Täufer,
Mk 1,3–6
derjenige, welcher zu einem Prediger in der Wüsten beruffen ist, muß sich in

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Kameelshaaren kleiden und von Heuschrecken und wilden Honig leben.

8
Werden Sie es auch so machen, wie ich, mein lieber Baron und mir

9
dasjenige mittheilen, was Sie für sich Selbst aus meinem Mährchen für eine

10
Sittenlehre gesogen haben. Sie wusten ehmals einige Verse, in denen Sie sich

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anheischig machten die Bienen nachzuahmen.

12
Die ersten Verse des Gedichts „An die Bienen“ von
Johann Nicolaus Götz
, das in versch. Anthologien und versch. Versionen gedruckt vorlag.
HKB 129 ( I 278/32 )
O möcht ich doch wie ihr, geliebte Bienen seyn

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An innerm Geiste groß, obschon an Körper klein pp.

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Da Sie sich so dreist an die Gnädige Gräfin gewandt haben um die

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Vergeßenheit Ihres Versprechens gut zu machen; so werden Sie so gut seyn auch

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die Entschuldigung dieser Freyheit auf sich zu nehmen, und meinen

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unterthänigsten Dank für die huldreiche Herunterlaßung zu unsern kleinen

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Angelegenheiten, in meinem Namen mit aller Ehrfurcht bekennen. Ich wünsche

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zugleich Ihro Excellenz dem Gnädigen Herrn General eine glückliche

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Zurückkunfft von Ihrer Reise, der ich nach den verbindlichsten Grüßen an die

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Fräulein Schwester und kleinen Herrn Bruder verharre Meines lieben Barons,

22
ergebener Diener.

23
Riga. den 17.
Octobr.
1758.
Hamann.


24
Adresse:

25
à Monsieur / Monsieur Joseph le Baron / de Witten, / à Grunhoff.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 40.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 323–325.

ZH I 266 f., Nr. 124.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
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Geändert nach Druckbogen 1940; ZH:
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