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S. 34
greg. 31.03.1753
Riga den
20/31 März. 1753.

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Liebwerthester Vater,

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Ich habe
vorige
diese Woche ein klein
Paquet
mit Briefen abgefertigt,

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die ein Apothecker Geselle, den ich nicht kenne, mitgenommen hat, v.

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unterdeßen die Ihrigen zu meiner großen Zufriedenheit erhalten. Ich freue mich

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herzlich, daß Sie Gott Lob! alle gesund sind. Der Höchste stärke Sie, lieber

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Papa, bey Ihrer Arbeit und seegne selbige. An Herrn M. HE. Karstens,

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Lauson, Wolson, Hennings pp habe ich geschrieben. Weil ich noch Zeit zu haben

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glaubte, so ließ ich die Briefe an meine liebe Eltern zu letzt, um mich auf

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alles das besinnen zu können, was ich zu schreiben hätte. Meinem Bruder

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hatte ich auch einen ziemlich ausführlichen Brief zugedacht. Ich bin aber so

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unvermuthet v. ohne Noth übereilt worden, daß ich Mühe hatte mit dem

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nöthigsten, an Sie, meine liebe Mutter v. Bruder fertig zu werden. Eine

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Antwort an HE.
Secr.
Sahme v. ein Brief an Herrn Regim.
Q. M.
Link hat gar

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unterbleiben müßen; so sehr ich es mich auch gegen den erstern Freund

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vorzuwerfen habe, so hat es doch nicht angehen können. Wird der ehrliche Franz

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oder Fuhrmann Reiß nicht bald einen Brief an mich bringen, damit Sie nur

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mein
Logis
kennen lernen v ich Sie angewöhne sich bey mir zu melden, wenn

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sie ankommen v. abgehen wollen.

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HErrn von Marschall Tode
nicht ermittelt
Herr Gericke hat mir die erste Nachricht von des HErrn von Marschall Tode

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gebracht, die mich gewaltig erschreckt hat. Er hat sie aus den berlinischen

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Zeitungen erfahren, wie ich sie nachher auch in der hamburgischen gelesen habe.

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Man kann sich ohnmöglich einiger Betrachtungen bey diesen Todesfall

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erwehren, wenn man die Geschichte dieser Familie ein wenig kennt. HE. Linck

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wird mehrere vielleicht machen können. Daß die Vorsehung auch die ihrigen

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über die Handlungen der Menschen macht, ist für denjenigen, der eine glaubt,

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keine gleichgiltige Sache.

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L’hombre
Kartenspiel
Papa mit seinem Pfeifchen, die 3
L’hombre
Spieler, der Freund um 9 des

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Abends mit einer wollenen Peruke, meine liebe Mutter beym Spinnrocken!

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ich kann sie mir noch alle vorstellen. Die Frau
Lieut.
habe ich im Geist nach

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Herrn M. Peruqve
Perücke von
Johann Gotthelf Lindner
des Herrn M. Peruqve lauffen gesehen um sie recht betrachten zu können; v

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die Jgfr. Degner habe ich eine viertelstunde nachher lachen gehört. Es hat

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keiner als ich gefehlt.

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Herr Gericke besucht mich öfters genung; ich bin nicht mehr als einmal bey

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ihm gewesen. Ich halte mich an Herrn Belgers Haus. Er hat einen sehr tollen

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Brief an Sie geschrieben (die meinigen mit Gelegenheit sind durch ihn bestellt

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worden) wie er sagt v will mich bey Ihnen verklagen, wie er mir gestern

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gedroht hat. Ich habe Ihn gebeten Ihnen kein blindes Schrecken mit einer

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falschen
Conduite
Liste einzujagen. Sein Gemüth hat etwas ehrl. das er niemals

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verlieren wird; v dies macht ihn eben zu einem eignen v. unglückl.

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Staatsmann. Ich bin gewiß, daß ich von meinen lieben Eltern reden höre, so offt ich

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ihn besuche. Der Herr Baron läst seinen verbindlichen Gruß Ihnen abstatten.

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Wie sehr wünschte ich mir, ihn
selbst
mit der Zeit in das Haus meiner lieben

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Eltern einmal führen zu können! Kaum ist es mir glaublich, daß ich schon

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greg. 18.12.1752
über ein viertel Jahr hier gewesen bin; den 7
Dec.
alten Styls bin ich nach

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Kegeln gekommen; Montags darauf habe ich meine Arbeit angefangen. Ist

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das halbe Jahr um; so will ich mich melden. Ist man mit mir zufrieden, so

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Thrl.
Taler, meist ist der 24 Silbergroschen entsprechende Reichstaler, eine im ganzen dt-sprachigen Raum übliche Silbermünze, gemeint (Groschen: Silbermünze [ca. 24. Teil eines Talers] oder Kupfermünze [ca. 90. Teil eines Talers]; in Königsberg war der Kupfergroschen üblich; für 8 Groschen gab es ca. zwei Pfund Schweinefleisch).
bleibe ich noch. Ob ich auf 100 Thrl. dringe? Die geringste Schwierigkeit wird

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mich verekeln. Meine Empfindlichkeit in diesem Stück kennt niemand wie ich.

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Ich danke Gott, daß ich meine Zeit nicht umsonst hier weder für mich selbst

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noch für meinen lieben Baron zugebracht habe. In demjenigen, womit ich mit

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ihm nicht zufrieden bin, liegt die wenigste Schuld an ihn. Liefländische

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Erziehung! Mutter! auch zum Theil Hofmeister! So hart wie ich ihm bisweilen

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seyn muß; so zärtlich bin ich gegen ihn. Er wird mich gewiß nicht vergeßen,

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v. mich eben so ungern verlieren wollen. So sehr ich mich an die Kinder halte;

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so entfernt bin ich noch von allen denen, die mich nichts angehen, v. meinen

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Grundsätzen, Denkungs Art v Neigungen entgegen sind. Der Gruß, den Sie

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mir unten aufgetragen haben, lieber Papa, ist daher nicht von mir bestellt

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worden; der Begrif einer feinen Achtsamkeit v. wahren Höflichkeit ist für den

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Räthsel Simsons
Ri 14,12–18
Stoltz ein Räthsel Simsons. Wenn Sie in Riga wären, lieber Papa, ich

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zweifele fast nicht, daß sie in Gnaden bey ihr stehen würden; denn sie ist bey allem

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vll. Anna Eleonore Gräfin v. Geßler (1695–1774)
dem eine
Dame,
ohngefehr wie die Gräf.
Gesler,
die aber nur gegen ihre

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Schuldn. grausam ist. Ich sehe, daß ich bey dem Geheimnis, das ich aus

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meinem Charakter mache,
zu
am besten fahre, v ich will dabey bleiben. Man

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kennt einige gute Eigenschafften von mir, man vermuthet bisweilen andere,

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die es nicht sind; im übrigen weis man selbst nicht recht, was man aus mir

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machen soll. Die Kinder lieben mich, weil ich sie liebe, v. weil ich niemals streng

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gegen Sie bin, als biß ich sie überführt habe, daß ich es Ursache habe zu seyn;

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es fehlt mir auch niemals daran mit ihnen aufgeweckt umzugehen v sie

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spielend arbeiten zu lernen. Uebrigens erhällt mich der liebe Gott gesund. Hat man

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Ursache sich über etwas auf der Welt zu beschweren, so lange man diese

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Wohlthat genüst. Es fehlt mir an nichts bisher v. ich bin von einem zufriednen

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Herzen. Ich umarme Sie aufs herzlichste, lieber Papa, v wünsche Ihnen

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alles Gute. Leben Sie wohl, mit meiner lieben Mutter will ich auch noch

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ein Wort reden.


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Herzlich geliebteste
Mama,

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Muhmchen
Lorchen, s.u. die Tochter von
Philipp Belger
.
Sie haben Seife gekocht; sie haben meine Jgfr. Muhmchens bey sich gehabt.

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Haben Sie auch Waffeln gebackt? Haben auch die Jgfr. Muhmchens meine

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Gesundheit getrunken? Ich habe gestern bey HErrn Belger gepunscht, v. recht

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gut darauff geschlafen. Wißen Sie
auch
schon, daß ich auch ein Jgfr.

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Muhmchen hier habe; ich glaube gewiß, daß ich es Ihnen noch nicht geschrieben. Sie

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ist auch schon meine Braut gewesen; nun will ich sie aber nicht haben,

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Lorchen
die Tochter von
Philipp Belger
. Zur Erheiterung der Mutter stellt Hamann das Kind als Braut dar, die ihn verschmäht.
ohngeacht ihr Vater ein
Advocat
ist. Lorchen, die mich ihren
Cousin Amen
nennt,

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Musching
Kosewort für Kuss (konnte ebenso als Kosewort für Mutter oder Kind verwendet werden)
v. mir manchen Musching, aber mir doch nicht so viel als ihren übrigen

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Bräutigams gegeben hat, Lorchen, die sonst so viel von meinen blanken Knöpfen

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gehalten hat, sieht weder mich noch meine blanke Knöpfe an, wenn ich
meinen Baron mitbringe, der einen rothen Rock v eine blauseidene

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Weste in seinem Staat trägt, die mit einer goldenen
Espagne
besetzt sind.

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Ihnen wird, liebe
Mama,
gewiß nicht mit einer Schwiegertochter gedient seyn,

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die so wenig von mir hällt. Wollen Sie mir nicht die Erlaubnis geben, daß ich

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mir eine beßere Braut aussuchen darf. Ehe ich aber mit ihr breche, will ich

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warten, biß ihre Mutter mir ein paar Hand Manschetten wird ein wenig

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geflickt haben, die ich ihr gestern brachte. Ich bin recht verlegen, geben Sie mir

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doch einen guten Rath, was ich thun soll. Wenn Ihnen der liebe Gott

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Gesundheit schenkt; so leben Sie
doch
vergnügt v. vergeßen Ihren Sohn nicht.

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Joh. George Hamann.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (11).

Bisherige Drucke

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, I 38–40.

ZH I 34–36, Nr. 13.