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S. 38
Mitau
heute Jelgava, Lettland [56° 39′ N, 23° 43′ O] (40 km südwestlich von Riga)
Mitau. den
4 1760

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HöchstzuEhrender Freund,

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Grünhof
heute Zaļā (Zaļenieku) muiža, 70 km südwestlich von Riga, 20 km südwestlich von Jelgava/Mitau, Lettland [56° 31’ N, 23° 30’ O]
Ich habe aus Grünhof mit Schmerzen auf eine Erklärung von meinem

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Bruder und einen Brief von Ihnen erwartet. Weil es mir da nicht gefiel, und

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meine Ungedult nach Antwort zunahm, so bin vorgestern hier angelangt.

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Wollte mich in eine Stube hier einmiethen, erhielt auch vom HE.
Fiscal
die

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gütige Anerbietung in seinem Hause mich aufzuhalten, auf das ernsthafte

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Versichern des HE
Doctors
ist es mir lieber gewesen bey ihm einzukehren.

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Jetzt sitze hier auf Nadeln, und wenn mein Bruder die geringste Empfindung

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von der Pflicht hat sein Versprechen zu halten, oder das geringste Mitleiden

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mit meiner Verlegenheit und ganzen Verfaßung meiner Wallfahrt; so wird

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er so klug und barmherzig seyn mich nicht länger aufzuhalten.

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Sie wißen die Abrede, höchstzuEhrender Freund, die ich mit Ihnen in

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Ansehung seiner genommen. Sie haben alles gebilligt; jetzt muß ich darauf

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dringen, daß alles erfüllt wird. Acht Tage kamen Ihnen selbst zu lange vor,

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und ich habe diesen
Termin
aus Schwäche so lange ausgesetzt um die

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Beschuldigung meiner Heftigkeit nicht aufzurühren. Übermorgen sind 14; und

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ich bin noch eben so weit. Zu meinem und anderer Verdruß hab ich weder Lust

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noch
nöthig
zu leben. Ich wünschte daß mein Bruder auch so menschlich

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dächte!

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Es
ist mir
gleichgültig, ob ich allein oder in seiner Gesellschaft heimkehre.

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Ich will mir in einem und andern Stück seinem Willen gern unterwerfen, so

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bald er mir selbigen offenbaren wird. Meines Herzens Meynung über seinen

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Zustand habe ihm von Grund der Seele entdeckt, und nichts von dem

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vorenthalten, was die Wahrheit mir im Mund gelegt. Meinen Rath habe ihn

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eben so wohlmeynend und freymüthig gegeben. Dies ist alles was ich thun

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kann. Will er meinem aufrichtigen Zeugnis keinen Glauben zustellen, noch

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einem brüderl. Rath folgen; so kann es mir selbst gleich viel seyn. Kennt

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er beßere Zeugen und ehrlichere Rathgeber; so thut er gut ihre Parthey zu

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ergreifen. Mir ist an seinem Wohl mehr als an meinem Urtheil gelegen. Bin

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ich auf das letztere eigensinnig, so macht mich die Liebe des ersteren dazu.

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Mein Vidi …
lat. veni, vidi, vici; dt. ich kam, ich sah, ich siegte (
Suet.
Caes.
37,2).
Mein
Vidi
ist mit meinem
Veni
eingetroffen; ein langsamerer und späterer

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Sieg für mich wird ein desto größerer Verlust für meine Feinde seyn.

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Das Schlafzeug gestern richtig erhalten, wofür verbindlichst danke. Ich

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weiß nicht ob Sie gleich nach meiner Ankunft allhier die Nachricht davon

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bekommen; war mir eine Antwort darauf vermuthen. Jetzt werde nirgends

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als bey Ihrem HE Bruder in Mitau seyn. Habe vor 8 Tagen mit der Post

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diesen Brief
HKB 189
geschrieben, melden Sie mir doch wenigstens ob Sie diesen Brief erhalten.

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Die Absicht deßelben war bloß Ihnen eine sichere
addresse
zu geben.

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Mein Paß geht, höchstzuEhrender Freund, in kurzer Zeit zu Ende; für seine

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Verlängerung würde eine neue Sorge seyn. Hat mein Vater gar nicht

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geschrieben? Ich weiß nichts von ihm. Liegt in Riga etwas: so laß doch mein

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Bruder nicht die Beförderung oder
Communication
vergeßen.

8
HE Hof
Doctor
befindet sich gesund. Mein Gemüth leidet sehr durch

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Entziehung der Nahrung, meines Tagewerks, und meine Gesundheit gleichfalls

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Haberdiät
Haferdiät
dadurch die ich durch eine Haberdiät bald wiederherzustellen
denke
hoffe.

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Frau Gemalin
Marianne Lindner
Nach herzl. Empfehl an Ihre Frau Gemalin ersterbe nach freundschaftlicher

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Umarmung Ihr ergebenster

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Hamann.


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Von meinem HE. Wirth folgt ein brüderl. Gruß pp. Er entschuldigt sich

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Jungfer Schwägerinn
Sophie Marianne Courtan
in Ansehung Ihrer Jungfer Schwägerinn nicht die verlangte Nachricht von

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den Umständen ihrer Krankheit und den vorgelegten Fragstücken erhalten

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Brief durch Mad. Schäferin
nicht ermittelt
zu haben. Haben Sie Geld und Brief durch
Mad. Schäferin
von ihm

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empfangen.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 2 (53).

Bisherige Drucke

Walther Ziesemer: Unbekannte Hamannbriefe. In: Altpreußische Forschungen 18 (1941), 289 f.

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, III 32 f.

ZH II 38 f., Nr. 190.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
38/21
ist mir
]
Geändert nach Druckbogen (1940); ZH:
ist mit

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): ist mir