216
121/23
Königsberg. den
7 Nov. 1761.

24
GeEhrtester Freund,

25
Abälard Virbius
Unter diesem Pseudonym erschien
Hamann,
Chimärische Einfälle
Falls Sie mich für den Abälard Virbius halten; so behalten Sie ja ihr

26
Inschrift
Lindnder hat wohl gefragt, ob er der intendierte Empfänger sei.
Exemplar. Sie bekommen sonst kein anders. Von der
Inschrift weiß nichts
,

27
und muß
durch einen Irrthum geschehen
seyn, weil mehr zu besorgen

28
gäntzl. Scheidung
von Berens und Kant
gewesen. Sie wißen meine gäntzl. Scheidung, die mir jetzt mehr als jemals zu

29
Abfertigung des Hamb. Nachr.
Christian Ziegra
im 57 St. von
Hamburgische Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit
, Juli 1760; abgedruckt in
Hamann,
Wolken
P.
St. Petersburg
statten kommt. Die Abfertigung des Hamb. Nachr. fand für gut nach P. zu

30
derselbe
Ziegra
bestellen, weil derselbe ein treuer Kopist der edeln Empfindungen war und

31
wenn HE. B. durch HE. Mag. K. hatte die
Recension
bestellen laßen: so

32
Jakob Böhm
Jacob Böhme
hätte sie nicht edler gerathen können. Denn Jakob Böhm bin ich in den Augen

33
Calumnien
Verleumdungen
dieser Leute immer gewesen. Wenn man
Poßen
und
Calumni
en
an statt

34
Narrentheidungen
Eph 5,4
Urtheile reden will; so bin ich dergl. Narrentheidungen beßer gewachsen, als

35
diese kluge Kunstrichter. Ich wünsche auch meinen Feinden Weib und Kinder,

S. 122
Schaff und Rinder – mein bescheiden Theil auf der Wellt habe ich täglich, und

2
wie Agur
Spr 30,8
bitte darum wie Agur, der allernärrischte unter allen Menschenkindern –

3
Baßa
George Bassa
Pro secundo;
sagen Sie Herrn Baßa, daß ich mausetodt bin, wie eine

4
ägyptische Mumie in lauter Specereyen eingewickelt liege, und weder Hand noch

5
Fuß rühren kann. Seine Verbindungen mit meinem Bruder sind mir gäntzl.

6
fremde, und da ich mich seiner wesentl. Angelegenheiten gäntzl. entzogen

7
habe, so würde es sich am wenigsten schicken mich um seine Rechenpfennige zu

8
Thlr.
Taler, meist ist der 24 Silbergroschen entsprechende Reichstaler gemeint, eine im ganzen dt-sprachigen Raum übliche Silbermünze.
bekümmern. Ich habe selbst 10
Thrl
. in Riga von ihm aufgenommen und

9
habe noch gar keine Lust an Bezahlung zu denken; es ist ihm auch noch gar

10
nicht eingefallen mich darum zu mahnen.

11
Bengels Erklärung habe bestellt, liebster Freund, – ich denke selbst, daß

12
Jünger
Joh 13,23
der Jünger im Schooß zu bescheiden gewesen
indiuidua
zu karakterisiren.

13
Dergl. Freyheiten nehmen sich nur Zöllner und Sünder von Autorn, aber

14
keine Heiligen. Ein wenig Schmeicheley mag auch wol in dem Herzen der

15
Pharisäer
Mt 22,15ff.
Pharisäer gewesen seyn, da sie Christum beschuldigten, daß er nach niemand

16
frage pp. Ich vertiefe mich aber nicht in Dingen die mir zu hoch sind; sondern

17
bleibe bey irrdischen.

18
Charakter Wolmars
Mit dem Julie standesgemäß aber gegen ihren Willen verheiratet wird in
Rousseau,
Julie ou La nouvelle Héloise
.
Im Charakter
Wolmar
s liegt das erhabene Komische, das nur
Rousseau’
s

19
zu treffen
malen
wißen. Ein ruhiger, weiser, ehrl. Mann ohne Gott im

20
glimmend Tocht
Mt 12,21
Herzen. Ein solch glimmend Tocht in der Welt muß freylich kalt Blut haben.

21
Ein solch Geschöpf ist einem Blinden gleich, der Farben
fühlen
kann und

22
eben so bewundernswürdig wie ein Mondsüchtiger, der sichere Schritte thut

23
als ein wachender. Das Romanhafte im eigentl. Verstande mag wohl in

24
dergl. Chimären und Illusionen bestehen, da man sich
non – entia
zu Mustern

25
macht. Die Frau gewordene Julie sagt sehr alberne Einfälle auf dem

26
Sterbebette, die nur ein
Wolmar
für würdig halten kann aufzuzeichnen und die

27
nur ein frostig Gehirn rühren können. Als eine
Hausmutter
über eine

28
mystische Schriftstellerin zu urtheilen, ist eben so seicht, als wie ein
Buchdrucker

29
von der Güte eines
Buchs
Autors zu urtheilen. Zum urtheilen gehört, daß

30
man
jeden
nach
seinen eigenen Grundsätzen
prüft, und sich selbst in die

31
Stelle des Autors setzen kann. Wer ein Richter der Menschen seyn will, muß

32
Herkules furiosum
vll. Anspielung auf die Tragödie
Hercules furens
des Seneca
selbst ein Mensch werden, und wer einen Herkules
furiosum
vorstellen will,

33
caeteris paribus
lat.: ceteris paribus qui hypothetice concludunt – dt.: unter sonst gleichen Bedingungen, die hypothetisch zum Schluß führen
muß selbst einer,
caeteris paribus,
zu werden im stande seyn.

34
ersten Theil
von
Platons
Werken; vgl.
HKB 215 ( II 118/2 )
Den letzten
Octobr.
habe den ersten Theil von
Platons
Werken zu Ende

35
Gespräch vom 2ten
wohl das Buch Politikos der zweiten Tetralogie
gebracht v zugl. ein Gespräch vom 2ten mitgenommen das zur Einleitung sr.

36
politischen dient. Ich dachte nicht gegen Weynachten mit fertig zu werden –

37
Galgen
Est 5,14
, bezogen auf Haman, der erste Minister Ahasveros, und seine List zur Vernichtung der Juden, die sich gegen ihn selbst wendet.
Gott Lob! – Diese Woche habe geruht, und mir einen Galgen gebaut 50 Ellen

S. 123
hoch. Für diese Arbeit hat mich gegraut, und ich habe sie mir langweiliger,

2
Cui bono?
dt.: Wem nützt es?
mühsamer vorgestellt. Fertig! fertig!
Cui bono?
wird jener alte Schulphilister

3
Abaelard Virbius
Unter diesem Pseudonym erschien
Hamann,
Chimärische Einfälle
Apelles […] crepidam
Apelles von Kolophon
.
Plin.
nat.
35,36,85: „Schuster bleib bei deinen Leisten.“
sagen;
Abaelard Virbius
entschuldigt sich mit einem Spruch des
Apelles:

4
Feurige Roß v. Wagen
2 Kön 2,11
Ne sutor vltra crepidam.
Feurige Roß v. Wagen! die kein Kleinmeister, wie

5
Phaeton
Sohn des Sonnengottes Helios. Als er mit dessem Sonnenwagen zu fahren versucht, stürzt er durch einen Blitz von Zeus ab (u.a.
Ov.
met.
1,750–2,400).
Wer sein Leben …
Mt 10,39
Phaeton
war, regieren wird. Wer sein Leben verleurt, sagt mein Apoll, der

6
Komm ich um …
Est 4,16
wirds erhalten. Komm ich um; so komm ich um.

7
chaldäische Kapitel
HKB 215 ( II 119/32 )
Gestern mir zur Ader gelaßen, heute die 7 chaldäische Kapitel im Daniel zu

8
Er fördert …
Ps 90,17
Ende gebracht, mit denen es jetzt zieml. gut gegangen. Er fördert das Werk

9
meiner Hände – –

10
Plato
Platon
Plato möchte wohl viel Muße biß Weynachten haben, weil ich noch eine

11
Ianus bifrons
Janus, doppelgesichtiger röm. Gott der Tore und des Anfangs
Arbeit in der Zeit endigen muß, um wie
Ianus bifrons
das neue Jahr erleben

12
zu können.

13
Mein Vater empfiehlt sich Ihnen bestens. Von der geEhrten Mama v HE

14
liebe Hälfte
Marianne Lindner
Wagner
erwarte Einschluß. Ich umarme Sie und Ihre liebe Hälfte. Leben

15
Sie wohl und denken Sie an Ihren Freund.

16
Hamann.


17
Ich werde Ihnen einige Sachen nach dem Buchladen schicken, auch 3 Ex.

18
nach Paris bestimmt
nicht ermittelt
der
Lettr. neolog.
Das eine davon war nach
Paris
bestimmt, ist eben mit

19
Fidibus
Pfeifenanzünder
Fleiß zurückgeblieben. Sie können mit machen was Sie wollen
Fidibus
oder

20
Schnupftücher –

21
Bin heute mehr als halb krank, habe weder Appetit ein Buch anzusehen

22
noch Koffee zu trinken, werde also auf dem großen Schlafstuhl die Woche

23
beschlüßen.



S. 492
Handschriftliche Anmerkung von Johann Gotthelf Lindner zu HKB 216 (II 123/4):

32
Mondsüchtiger! fahre
auf zu dem Vater
Apotheosis

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 2 (75).

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, III 114–117.

ZH II 121–123, Nr. 216.

Zusätze fremder Hand

492/32
Johann Gotthelf Lindner

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
122/8
Thrl
]
Geändert nach Druckbogen 1940; ZH:
Thlr
492/31
–32
Handschriftliche […] VaterApotheosis]
In ZH im Apparat.