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Meyhof
Gutsbesitz der v. Wittens; wohl Meijas muiža (Maihof) in Jelgava/Mitau, Lettland [56° 39’ N, 23° 42’ O]
Meyhof den
5 April 1755.

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Herzlich Geliebtester Vater,

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Sie sehen wo ich bin v dies wird mein bisheriges Stillschweigen

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Zuschrift
nicht überliefert
Mietau
heute Jelgava, Lettland [56° 39′ N, 23° 43′ O] (40 km südwestlich von Riga)
entschuldigen. Ich habe Dero letztere zärtliche Zuschrift vom 26sten März in Mietau

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erhalten wie ich eben aus Riga ankam, wo ich auf einen ganzen Tag und

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2 Nächte mit HE.
D.
Lindner gewesen war um unsere dortigen Freunde zu

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besuchen. Vorigen Donnerstag wollten wir nach Hause reisen; wir kamen mit

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Lebensgefahr biß an die Bäche und
noch
mit noch größerer, die Gott Lob

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glücklich überstanden, des Abends hier wieder zurück. Ich habe also auch einen

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kleinen Versuch vom demjenigen gehabt, was unsre Fuhrleute im Fluch kursche

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Wege nennen. Dem Himmel sey Dank, daß ich nur für Angst gebadet hier mit

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meiner gnädigen Gesellschaft wieder angelandet bin. Die junge HE. saßen

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Ihrem Vater v. mir gegenüber. Mir
sind
fielen die Verse ein
gefallen
, die

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Sie uns bisweilen vorsagten, in denen der Fall eines Elepfanten beschrieben

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war und die Gefahr einen solchen Beysitzer zu haben, lag mir immer im

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Sinn. Vergeben Sie mir meine kleine Bitterkeit; ich glaube berechtigt dazu zu

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seyn. Was waren die Gründe, die diese Reise unumgänglich v. Menschen

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gegen sich selbst, Eltern gegen ihre Kinder, Herren gegen ihre Leute gleichgiltig

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machten. Fugen ohne Überlegung, wirthschaftliche Angelegenheiten so klein,

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so klein, als man sich selbige kaum vorstellen kann. Alle Genungthuungen,

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alle Geberden, mit denen man nach geschehener That sein Mitleiden, seine

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Unwißenheit v Erstaunen ausdrücken will, kommen mir obenein als die

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niederträchtigste Falschheiten vor. Was für ein Land, in dem die Menschen so

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impracticable
als die Wege sind!

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Nach so einem verdrüßlichen Eingang erlauben Sie mir, lieber Papa, daß

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ich Ihnen noch ein paar Worte von meinem genoßenen Vergnügen in Riga

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sage. Ich habe daselbst Gott Lob Freunde gefunden, die mich mehr als jemals

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lieben; v ich kann mich noch nicht besinnen in der Fremde so vergnügt als

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diese kurze Zeit gewesen zu seyn. Der liebe M. wird dort mit viel

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Beqvemlichkeit v Zufriedenheit leben können. Er hat ein recht schönes Haus v. auch eine

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Stube darinn vor mich bestimmt, wenn ich selbige annehmen will. So ungern

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ich andern verpflichtet seyn mag, so gern will ich es wahren Freunden seyn.

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Ursache mehr sie zu lieben, wenn sie gleichsam unsere Gläubiger v. Wohlthäter

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sind. Sie sind ohnedem die Werkzeuge unsers Glückes, das wir auf der Welt

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besitzen können.

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Diese Spatzierfahrt also, unser zurückgegangener Vorsatz nur 8 Tage hier

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zu bleiben v die schlechte Einrichtung, in der wir uns auf diesen Fuß gesetzt

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haben, sind die Hinderniße gewesen, warum nicht eher habe schreiben können

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und mögen. Man ist zwar willens in einigen Tagen wieder einen Versuch zu

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machen um nach Grünhof zu kommen. Derselbe wird aber von selbst verboten

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seyn, weil die gröste Fluth noch erst nachkommt, da die Mietauer und wir

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vollends Insulaner werden müßen.

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Zuschrift
nicht überliefert
Jetzt komme auf die Antwort, die ich Ihrer letzten sehr gütigen Zuschrift

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schuldig bin. Ich freue mich herzlich, Geliebtester Vater, daß Sie wieder

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ausgehen können und wünsche Ihnen von Herzen so wohl Kräfte zu Ihrem Beruf

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als den Willen erstere zu schonen und sich letzteren nicht zu schwer zu machen.

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Gott gebe, daß Sie mit so viel Seegen als Gemüthsruhe arbeiten mögen!

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Ihre heilige Osterfeyer möge durch nichts gestört worden seyn und dasjenige

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Gebet auch von Gott erhört v gnädig erfüllt werden, was meine liebe Eltern

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auch für Ihre Kinder dem Himmel gebracht haben. Der Glaube an

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denjenigen, der ewig lebt uns zum Trost, zur Hofnung, zur Freude, nachdem er an

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unsere
Stelle gelitten hatte v. gestorben war, wälze alle Traurigkeit von

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Ihrem Gemüthe, v weke Ihren Geist zu einer Seeligkeit auf, die Ihnen ein langer

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Vorschmack der künfftigen seyn möge, v. die Ihnen noch lange die Welt, in

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einer christlichen Freyheit von allen irrdischen Sorgen, genüßen laße!

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Die Beßerung des HE. Renzen wird wohl zur Gesundheit ausgeschlagen

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seyn; ich bitte ihm Glück dazu zu wünschen.

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Über die gute Aufnahme meiner Briefe bin sehr vergnügt; um desto mehr

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da ich mir selbige selten vermuthen kann. Die Antwort auf sie wird mich

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davon noch völliger überführen. Die Nachbarschaft des HE. Berens bringt mir

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Briefwechsels
nicht überliefert
jetzt den Vortheil eines franzöischen Briefwechsels ein, der mir zwar noch

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bisweilen einige Mühe macht, die ich aber desto lieber auf mir
nehmen
um in

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dieser Sprache desto geübter zu werden. Außer dem Lesen ist dies die einzige

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Arbeit, die ich bey meinen Geschäften v. Umständen abwarten kann. Ich sehne

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mich daher nach einer Muße, die mich wieder ein wenig zu studieren erlauben

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wird.

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Ich habe mir damit geschmäuchelt, daß ich meinen lieben Eltern einen

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Gefallen thun würde, wenn ich noch einige Zeit hier bliebe. Diese einzige

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Betrachtung hat mich auch dazu bewegen können. Ich habe aber nicht mehr als

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ein viertel Jahr zugelegt v jetzt möchte wohl mein Vorsatz unwiederruflich

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seyn. Mit dem Maymonath geht mein Termin zu Ende. Sie werden meine

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Gesinnungen erfahren und vielleicht billigen. Ich werde bey selbigen so viel

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möglich bleiben, weil ich denen Absichten
, die meine
meiner lieben Eltern

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vielleicht mit mir haben,
nicht gewachsen bin. Die Vorsehung kann mich

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vielleicht bald nach Königsberg führen. Wenn ich einen kleinen Umweg in der

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Reiseverabredungen mit J. Chr. Berens
Welt werde genommen haben, könnte ich mich vielleicht von selbst dazu

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entschlüßen. Mit dem Frühling denke ich wills Gott! in Riga zu seyn; vielleicht

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kann ich Ihnen dann mehr schreiben. Gesetzt daß ein guter Freund noch eine

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Reise nach meinen Wünschen thäte v mir gut genung wäre meine Gesellschaft

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sich gefallen zu laßen, und mich zu seinem Gefährten zu verlangen; würde ich

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denn nicht mit mehr Genungthuung, Nutzen, Ehre und Zufriedenheit denen

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besten Eltern mich zeigen können, wenn ich selbige zurückgelegt hätte?

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Umsonst bemühen sich unsre Gedanken, unsre ängstliche Gedanken in die

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Entschlüße der Vorsehung Eingrif zu thun. In ihren Mantel gewickelt und von

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Habacuc
ZusDan 2,36
ihr geführt geben uns Meere v. Klüfte sichere Fußsteige. Ein Habacuc

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wandelt
kann in der Luft ruhiger wandeln, als nicht ein Kind am Leitband unter

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der Hand der vorsichtigsten Wärterinn kriechen kann. Der Höchste wolle,

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Geliebtester Vater, Ihr Alter stark und meine Jugend weise machen. Er nehme

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sich unserer Schwachheiten und Thorheiten an. Ich sehe dem langen Briefe,

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den Sie mir zu schreiben versprechen, mit großer Sehnsucht entgegen. Ihre

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Lebensvorschriften sollen mir unendlich schätzbar seyn; und Ihr eigen Beyspiel

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unvergeßen. Ich ersterbe mit der innigsten Zärtlichkeit Geliebtester Vater, Dero

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gehorsamster Sohn.


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Herzlich geliebteste Mutter,

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Ich nehme an der Unruhe, die Ihnen durch das Unglück der ehrlichen Jgfr.

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Degnerinn betroffen, den aufrichtigsten Antheil. Bezeigen Sie ihr doch mein

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herzliches Mitleiden v wünschen Sie selbiger in meinem Namen eine leichte

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und baldige Genesung. Das Andenken ihrer Ehrlichkeit ist mir theuer; wie

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lieb wäre es mir sie thätlich davon zu überführen. Noch kann ich nicht und ich

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weiß auch nicht womit anders als mit meinem eifrigen Wunsch, daß sie Gott

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erhalten wolle; da durch ihre Handreichung Ihnen, liebste Mama auch manche

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Erleichterung zuwächst.

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Da ich in Riga gewesen, hat Frau Magist. meine liebe und werthe Freundin

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die ich jetzt in ihrer Ehe noch 3mal so lieb halte als vormals, Maaß zu

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Hemden genommen v. wird Ihnen selbiges zuschicken. Ich danke Ihnen auf das

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kindlichste für Ihre mütterl. Vorsorge, und kann um desto aufrichtiger seyn,

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weil mir selbige sehr zu statten kommt. 5 feine Hemde sind 14 Tage höchstens

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3 Wochen; denn meine Handmanschetten sind mehrentheils in 3 Jahren auf

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den Lauf gegangen. Mit Dingen, die in die Gerichtsbarkeit des Frauenzimmers

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laufen, mag ich mich so ungern abgeben und sie wißen, das liebe

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Wirthschaften ist niemals meine Sache gewesen. Unterdeßen kleine Stürme machen gute

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Schifsleute; v leyder! kann man auf der Welt der lieben Erfahrung, ja selbst

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der Noth so wenig als der Vernunft entbehren. Doch stellen Sie sich nichts

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ärgeres vor; ich bin bisher noch so ziemlich ehrlich durchgekommen, und sehe

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alles gegen ein gut Gewißen v. Gesundheit für Kleinigkeiten an, durch die

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man sich das Blut nicht muß dicke machen laßen.

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Die Ohrgehänge sind noch in der Mache v werden in einigen Wochen nicht

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Ducaten
Goldmünzen (in ganz Europa gängig)
fertig werden. Ihre Einfaßung allein kostet 8 Ducaten. Ich bin sehr neugierig

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sie an Ort v. Stelle zu sehen. Wenn ich dies Glück haben werde, will Ihnen

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Nachricht geben. Jetzt ist
mir mit
mir mehr daran gelegen Sie meiner

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kindlichsten und ergebensten Hochachtung zu versichern, mit der ich Ihnen die

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Hände küße und die mich Zeitlebens machen wird zu Ihren gehorsamsten Sohn

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Johann George Hamann.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (25).

Bisherige Drucke

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, I 65–68.

ZH I 96–99, Nr. 39.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
98/1
unsere
]
Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): unsere
r
98/11
nehmen
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies
nehme

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): nehme