40
S. 100
Meyhof
Gutsbesitz der v. Wittens; wohl Meijas muiža (Maihof) in Jelgava/Mitau, Lettland [56° 39’ N, 23° 42’ O]
Meyhof den
11 April 1755.

2
Geliebtester Freund,

3
Ihr Herr Bruder wird Ihnen vielleicht schon eine witzige Beschreibung

4
unserer Rückreise mitgetheilt haben. Wenigstens überlaße ich ihm diese Arbeit,

5
cui impar ego
dt. dem ich nicht gewachsen bin
cui impar ego.
Ich erkenne auf das zärtlichste die Freundschaft, die ich in

6
Ihrem Hause genoßen; weil ich selbige als eine Fortsetzung der alten ansehen

7
kann: so darf ich Sie durch meinen Dank nicht mehr aufmuntern damit

8
fortzufahren. Auch ohne dieser Betrachtung, Geliebtester Freund, würde ich mich

9
dem Vergnügen an Sie zu schreiben nicht so lang entzogen haben, wenn es

10
mir eher möglich gewesen. Die Feyertage habe ich bey dem lieben HE.
D.

11
zugebracht v wir haben uns beyderseits die Zeit lang und kurz wie wohl auf

12
eine ziemlich angenehme Art werden laßen. (Ich habe mich gewundert, daß er

13
seinen Geschmack an der Einsamkeit oder kleinen Gesellschafften die einförmig

14
und ungezwungen
sind,
für ihm sind, noch nicht verloren) Den letzten wurde

15
ich von meinen jungen HE B. in einem neuen, funkelneuen und prächtigen

16
Schlitten nach Hause geholt. Weil unsere Absicht war gleich nach den

17
Grünhof
heute Zaļā (Zaļenieku) muiža, 70 km südwestlich von Riga, 20 km südwestlich von Jelgava/Mitau, Lettland [56° 31’ N, 23° 30’ O]
Feyertagen in Grünhof zu seyn, so war ich weder mit Schreibergeräth versehen noch

18
sonst im stande dazu. Unser Versuch lief verzweifelt ab. Seitdem bin ich 8 Tage

19
wie im Arrest hier, wenigstens mit dem Verdruß eines Gefangenen. Seit

20
gestern finde ich mein
Geblüt
Blut und mein Gemüth etwas leichter. Es

21
verdrüst mich am meisten Ihrem HE. Bruder so nahe zu seyn v ihn nicht

22
besuchen zu können. Wir sind hier
beynahe
fast umschwommen, von der Stadt

23
v also von Stadtbesuchen abgeschnitten; v wegen der Dauer uns.

24
Auffenthalts in der grösten Ungewisheit. Mit der ersten Möglichkeit der

25
Kedarshütten
Ps 120,5
,
Hld 1,5
(Nomadenzelte)
halsbrechenden Gefahr ausgesetzt nach unsern Kedarshütten zu wandern. Sie können

26
unterdeßen Ihre Briefe
addressiren
wo sie wollen, (am besten nach Grünhof)

27
weil sie gleich sicher v. gewiß gehen. Damit ich die meinigen nicht
übersetzen

28
so will ich die Entschuldigungen nicht weiter anführen, an die ich schon in

29
Briefe
nicht überliefert
meinem Briefe an HE B. gedacht habe. Ich vermuthe, daß
selbiger

30
gegenwärtiger morgen früh abgehen wird v daß ich die von einem lieben Mutterchen

31
geliehene Serviette werde beylegen können. Meinem Willen nach und meiner

32
Schuldigkeit gemäß auch noch einige Danksagungszeilen an Ihr. Ich kann

33
gewiß für nichts gut sagen, ob ich eine Zeile oder eine Seite in einer Stunde

34
schreiben kann weiß ich eben so wenig als was.

35
Mietau
heute Jelgava, Lettland [56° 39′ N, 23° 43′ O] (40 km südwestlich von Riga)
Ich
fand eben
bekamm eben als in Mietau ankamm, einen Brief von

36
Hause, in dem meine Eltern besonders v mein Bruder Sie aufs herzlichste

S. 101
grüßen und 1000 sage tausend Gutes anwünschen laßen. Glauben Sie, daß

2
diese Alten es Ihnen eben so als ich selbst gönne. Unsere beyde Briefe haben

3
sich Gesellschaft auf der Post gemacht v mein Vater hat sich sehr darüber

4
gefreut in beyden gute Nachricht zu erhalten. Sie müßen ihm unsere späte

5
Mitausche erste Unterredung ihrer Länge nach gemeldt haben. Er schreibt daß er

6
uns gerne hätte im Winkel biß 2 Uhr des Nachts zuhören mögen. Meine

7
Briefe an HE
D. Lilienthal
v
Diac. Bucchholz
sollen eine sehr günstige

8
Aufnahme gefunden haben; in Ansehung des letzteren werde ich selbige am besten

9
aus seiner Antwort schlüßen können.

10
Brief
nicht überliefert
Ihr erster Brief, Liebster Freund, aus Riga ist sehr kurz gewesen. Ich hoffe

11
nicht, daß selbiger das Maas seiner Nachfolger seyn wird. Schmieren Sie wie

12
ich, wenn Sie nicht schreiben können. Ich beschwöre Sie darum. Wie ist
Ihre

13
Introduction
abgegangen? Wovon haben Sie geredt? Ist der Wein, den wir

14
Ihnen ausgetrunken, schon wieder ersetzt worden? In Ansehung der
v. der
Eclogae Ciceronis
von
Olivet
können Sie selbst urtheilen,

16
daß ich selbige noch nicht habe mitschicken können weil sie in Grünhof sind.

17
Sind sie mit Ihrer neuen SchulEinrichtung schon fertig? Besteht selbige in

18
neuen Misbräuchen oder wirkl. Verbeßerungen.

19
Mein Bruder hat mich sehr gebeten der Unterhändler uns. Briefwechsels

20
mit HE Secr. Sahme zu seyn. Er hat noch me. letzten Briefe zurückbehalten;

21
weil er se.
addresse
nicht weiß. Wenn eine nöthig ist; so melden Sie mir doch

22
selbige; damit ich ihn darauf antworten kann. Wir wollen diesen redlichen

23
Freund nicht vernachläßigen. Vergeßen Sie nicht diesen Punct.

24
Haben Sie meinen Nachfolger abgeschrieben; meine Eltern wißen schon

25
davon. Sie werden es gleichwol noch bey Gelegenheit thun können

26
Geliebtester Freund. Ist meine künfftige Stube schon geräumt? und Ihre Bibliotheck

27
schon in Ordnung? Es thut mir leyd mich nicht beßer daraus versorgt zu

28
haben, weil es mir hier daran fehlt. Die Ihrigen werden Sie bey meiner

29
Rückkunfft v ein wenig mehr Ruhe mit dem ergebensten Dank, den ich Ihnen

30
dafür schuldig bin erhalten?

31
An HErrn Gericke werden Sie meine freundschafftl. Grüße nicht vergeßen

32
haben pp was ich Ihnen an denselben aufgetragen. (Entschuldigen Sie meine

33
Feder, ich habe kein Meßer sie zu beßern.) Sind die
Entretiens historiques
vor

34
mir erstanden? Sollten Sie von
St. Real
seyn, so werden Sie selbige dem HE.

35
Berens mittheilen; ich bin in Ansehung des Titels ungewiß. Er wird diesen

36
Schriftsteller vielleicht noch nicht kennen v nicht weniger lieb seyn ihn zu lesen

37
als
St. Mard
der ihn mit Recht seinem Zeitgenoßen dem
St. Evremond

S. 102
vorzieht. Wiederholen Sie dem HE. Gericke die Versicherungen meiner

2
aufrichtigen Ergebenheit; v bitten ihn um eine Nachricht der für meinen Nachbar

3
erstandenen Bücher nebst der bey Gelegenheit gütigen Ueberschickung derselben.

4
Die von HE. Berens mir aufgelegte Buße in Ansehung des Toppe ist von

5
mir gewißenhaft übernommen v. ausgeübt worden. Ich laß selbiges v muste

6
bekennen daß ich mir zu sehr hatte einnehmen laßen. Die Schuld liegt sehr an

7
dem Sylbenmaaß, daß mich beständig irre macht v worinn ich gar nicht

8
geläufig bin. Ich habe nachher gefunden, daß er in den Wißenschafften sich über

9
diese einsylbichte Freyheit, wie er es nennt, erklärt hat. Mein Ohr ist

10
wenigstens damit nicht zufrieden. Der Rythmus v der Wohlklang deßelben ist bey

11
Gedichten wesentl. als der Reim. Ich war also schon wie Sie sehen auf meines

12
Freundes Seite. Des Zachariä Epische Gedichte fielen mir darauf in die Hände,

13
sie verdarben meinen Geschmack v die ersten Eindrücke sind gar zu lebhafft

14
dadurch bey mir geworden, daß ich nicht anders als auf mein erstes Vorurtheil

15
wieder zurückschlagen sollte. Einzeln ist des Toppe… in Vergleichung weniger

16
als mittelmäßig. Wie schön hat Horatz den Satz bewiesen, für den unsere

17
Empfindung kein Meyersches W. Z. E. keine Ästetic nöthig hat;
nec Dii nec

18
Hor.
ars
372ff.: „mediocribus esse poetis / non homines, non di, non concessere columnae“ / „Mittelmäßigkeit haben den Dichtern nicht die Menschen und nicht die Götter noch die Ausstellungspfeiler erlaubt“ (
HKB 170 ( I 450/23 )
)
Gerichte vergeßen
Hor.
ars
374,76ff.: „ut gratas inter mensas symphonia discors /et crassum unguentum et Sardo cum melle papaver /offendunt, poterat duci quia cena sine istis“ / „Wie an einladender Tafel ein Musikerensemble stört, das sich uneins ist, wie fettiges Salböl stört und Mohn mit sardinischem Honig, weil man das Mahl auch ohne hätte abhalten können …“
columnae concessere poetas esse.
Ich habe die Gerichte vergeßen, die er seinen

19
Leser aufträgt um ihren sinnl. Geschmack zu probiren. Die Stelle wird Ihnen

20
bekannter als mir seyn. Ich nehme noch eine seiner Regeln zu Hülfe um

21
kleine Fehler
Hor.
ars
351f.: „verum ubi plura nitent in carmine, non ego paucis /offendar maculis“ / „Doch wenn in der Dichtung vieles leuchtet, beleidigen mich nicht wenige Flecken, die Mangel an Sorgfalt darauf goß …“
meinen Eigensinn zu rechtfertigen. Kleine Fehler, sagt er, beleidigen mich nicht

22
wo mich das ganze entzückt. Sollte dieser Satz nicht eben so wahr als richtig

23
von abgesonderten Schönheiten seyn. Zieren oder verstümmeln Sie? nicht so

24
Noah
wahrscheinlich
Bodmer,
Noah
gut einen
Toppe
als einen Noah? Laß uns einen Stutzer wie Horatz einen

25
Tischgast darüber um Rath fragen.

26
Das Gedicht über die Wißenschafft hat ähnl. in Ansehung der Materie und

27
der Erfindung noch größere Mängel. Ich habe ihn selbst nicht bey Hand v kann

28
mich auf nichts beruffen sondern muß bloß meinem dunkeln Gedächtnis v

29
Vorstellungen nachschreiben. Melden Sie wenigstens uns. Freunde, daß seine

30
Bekehrungsmittel nicht haben anschlagen wollen; nicht aber daß ich mich

31
vorgenommen mein Herz selbst zu verstocken.

32
Wozu führt mich meine Schwatzhafftigkeit? Dank sey es meinem Glück,

33
daß ich an Freunde schreibe, die demjenigen Muster gleich sind, deßen Idee

34
Trauerlied
nicht ermittelt
das
zum schönsten Trauerlied einem Dichter an die Hand gegeben

35
Die Zeit
,
Entfernung
,
Glück
,

36
Was ich geredt was ich gehandelt

37
Selbst meine Schwachheit nie verwandelt.

S. 103
Wenn Sie sich sehen, umarmen und lieben; so denken Sie an mich, liebster

2
Freund, wie derjenige, den wir beyde mit gleicher Zufriedenheit so nennen.

3
Schreiben Sie mir so bald es Ihre Geschäffte zulaßen; so viel als mögl. so

4
gerüttelt v geschüttelt als ich es Ihnen zubringe. Entschuldigen Sie mich,

5
beurtheilen Sie mich nach meinen Gesinnungen, wir haben alle ein Dintenfaß

6
v eine Feder im ganzen Hause. Ich habe wahrhafftig nicht beßer schreiben

7
können als ich geschrieben. Mein
Anderes
Genius
wird
Sie
Ihnen lesen

8
lehren
helfen. Leben Sie wohl. Ich bin Zeitlebens Ihr aufrichtigster

9
Meyhoff
Gutsbesitz der v. Wittens; wohl Meijas muiža (Maihof) in Jelgava/Mitau, Lettland [56° 39’ N, 23° 42’ O]
Meyhoff den 11 Aprill 1755.
Freund Hamann.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 2 (8).

Bisherige Drucke

Heinrich Weber: Neue Hamanniana. München 1905, 21–23.

ZH I 100–103, Nr. 40.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
100/27
übersetzen
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies etwa
übersetzen
lassen muß
101/12
Ihre
]
Geändert nach Druckbogen 1940; ZH:
ihre