14
36/25
greg. 11.04.1753
Riga. den
31 Martz/11 April 1753.

26
Herzlich Geliebteste Eltern,

27
Ich habe heute angenehme Briefe von Hause bekommen; die Augen

28
Krankheit meiner lieben Mutter hoffe ich wird schon gehoben seyn. Es thut mir leid

29
Ihnen ein blindes Schrecken mit einem Geschwür unter dem Arm eingejagt

30
zu haben; es ist Gott Lob! nichts daraus geworden, v ich befinde mich

31
Marschall
Brautführer
übrigens recht gesund. Ich bin gestern auf die Hochzeit als Marschall gewesen; v.

32
diese Arbeit ist auch vorbey, ohne das Vergnügen genoßen zu haben, das ich

33
mir dabey vorgestellt. Ich habe diese gantze Nacht nicht geschlafen; weil ich

34
vermuthen muste zu spät nach Hause zu kommen v hier in der Ruh zu stören,

35
da sich überdem das jüngste Fräulein schon ein 14 Tage an Fieber krank

S. 37
befindet: so hatte ich mich die Nacht lieber ausgedungen. Weil die Hochzeit klein

2
war, so gieng ich, mein Ober Marschall, ein Sachse v. gleichfalls Hofmeister

3
Pantzer
dessen Untermieter
nebst HErrn Belger, HE. Pantzer zu dem letzteren auf die Stube v vertrieben

4
uns die Zeit bis 7 Uhr; von da wir unsern Morgenbesuch dem jungen Paar

5
ablegten v. ein jeder seine Straße gieng. Ich zu meinem Schaaf v jener zu

6
seinen Böcken. Sie werden einen Brief von mir nächstens mit einem Dantziger

7
Kauffmann Miltz
nicht ermittelt
Kauffmann Miltz erhalten, mit dem ich noch ziemlich lustig den letzten Tag

8
seiner Abreise bey HE. Belger gespeist habe. Den Abend vorher erfuhr ich erst

9
selbige v. lernte ihn kennen; ich habe daher wenig schreiben können. Sie

10
werden so gut seyn v den Mann einen Abend oder Mittag aufzunehmen suchen.

11
Er wird meinen Eltern berichten können, daß ich nach des HErrn Belgers

12
Urtheil zugenommen haben soll pp

13
Die Gewißensfragen, die Sie mein lieber Vater aus so einer zärtlichen

14
Sorgfalt an mich thun, sind eben solche, die ich mir selbst oft genung zu

15
beantworten suche. Ich bin weder zum Heuchler noch zum ruchlosen geboren.

16
Ohne mich zu schmäucheln, ich finde einen Beruff v einen Geschmack zur

17
Tugend in mir, der mich tausend Wollüste in guten Handlungen empfinden

18
läst, v. mir jede Ausschweifung zum Laster schwürig und eckel macht; so gut

19
als ich Neigungen an mir erkenne, die übertrieben werden können v. eine gar

20
zu große Leichtgläubigkeit zu den Versuchungen der Einbildungskraft. Die

21
Ehrfurcht, die ein Lehrer für seinen Untergebenen haben mus, v. die alle die

22
Orter, wo dieser sich befindet, gleichsam zu Heiligthümer macht, erhällt mich

23
in der Achtsamkeit auf mich selbst v auf die Sittenlehre. In ihrem

24
Schreibebuch steht diese Vorschrift, die zugleich eine für mich ist, von der ich am

25
ungernsten abweichen möchte:

26
Die Tugend ist des Lebens werth zu achten

27
Und wer sie treibt, erfüllt der Vorsicht weises Ziel.

28
Ihr Stand ist der, wornach die Klugen trachten,

29
Und Witz ist ohne sie ein leeres Schattenspiel.

30
Kein Lehrer kann der Welt mit Nachdruck rathen,

31
Er lehre denn zugleich mit seinen Thaten.

32
Ich habe meinem Bruder ein Tagebuch meiner Arbeiten versprochen, das ich

33
ihm nächstens mittheilen will. Endlich habe ich dazu kommen können den

34
HErrn Karstens zu mir zu bitten. Ich habe einen sehr vergnügten Nachmittag,

35
so kurz wie er auch war, in seiner Gesellschaft gehabt. Er war so gütig mir

36
zugleich einen Hamburger mitzubringen, der Hofmeister in seines Herren

37
Hause ist, den ich mit Vergnügen durch ihn zu meinen Bekannten zählen kann,

S. 38
weil er ein geschickter Kopf ist. Ehstens will ich meinen Gegenbesuch ablegen.

2
Sie werden so gut seyn Ihrem
Domino
Karstens meinen ergebensten v.

3
freundschaftlichsten Grus zu vermelden. Ich weis weder den Namen des

4
Fuhrmanns, Geliebteste Eltern noch habe ich den Namen des Apotheker

5
Gesellen erfahren können, der ihnen diese Briefe mitbringen wird. Er ist ein

6
Herling
nicht ermittelt
Bekannter von Herrn Herling v Herr Belger hat ihm die Bestellung jener aufs

7
beste empfehlen laßen. Ja, lieber Vater, ich stottere noch, bisweilen sehr,

8
bisweilen wenig, v. öffters garnicht. Dieser Fehler macht mich in Gesellschafft

9
zum verschwiegnen v. heimlichen Menschen, hindert mich aber wenig im

10
Unterricht. Ich glaube
aber
, daß derselbe andern nicht so beschwerlich ist

11
als ich es mir einbilde, v ich stottere mehrentheils, wenn ich mich fürchte zu

12
stottern. An den ehrlichen Nachbar Wagner werde ich mit ersten schreiben;

13
diese oder künfftige Woche habe ich dazu ausgesetzt mit Fuhrleuten Briefe zu

14
schicken. Verdingen Sie doch, liebster Vater, mit ihnen dorten; ich fürchte

15
mich gewaltig für die Unverschämtheit derselben, die mir hier ist unerhört

16
Ort
bzw. Orth, Name der polnisch-preussischen 18-Groschen-Münze, deren Silbergehalt unter Nominalwert lag, also als schlechtes Zahlungsmittel galt. Wurde teilweise in Königsberg geprägt. (Groschen: Silbermünze [ca. 24. Teil eines Talers] oder Kupfermünze [ca. 90. Teil eines Talers]; in Königsberg war der Kupfergroschen üblich; für 8 Groschen gab es ca. zwei Pfund Schweinefleisch.)
beschrieben worden. Ein bloßer Brief wird kaum mit einem Ort nach ihrem

17
Sinn bezahlt. Meine Laute ist nicht im stande sich für das
Compliment
zu

18
bedanken. Ich habe sie in 14 Tagen v. drüber weder spielen noch hören können;

19
weil mir Seyten zum 4ten 5ten
cet.
fehlen. Ich habe welche gekauft, die ganz

20
unnatürlich klingen. Herr Reichard hat mich auch nicht gar zu gut versorgt.

21
Es ist hier ein Secretair Würfel, der viele Stärke in der Musik besitzt, v der

22
eintzige Lautenspieler in Riga ist. Er hat
sich
mich auf ein Lauten Gericht

23
zu sich bitten
laßen;
ich werde aus Noth ihn beschmausen v zu Gast kommen

24
müßen v. ihm meine Laute zur Pflege geben. Ich erwarte mit dem äußersten

25
Verlangen, daß HE. Reichard die versprochene Stücke überschicken wird v.

26
laß ihn nebst den werthen
sten
Seinigen im voraus aufs beste grüßen. Ein

27
gleiches thun Sie, liebwertheste Eltern, allen Genoßen v. Freunden unseres

28
Hauses, Nachbarn v. Nachbarkindern. Ich küße Ihnen 1000 mal die Hände

29
v. bin Ihr

30
gehorsamstes Kind.


31
Lieber Bruder.

32
Um die gestrige Nacht bin ich in diesem Monat zu kurz gekommen.

33
Strumpfbänder bekommen die Marschälle hie nicht. Drey junge
Cavaliers
sind heute

34
immer oben v unten gelaufen. Ein kleines allerliebstes Fräulein, eine

35
Schwester des kleinen von Osten hat mich mit zwey jungen Jgfrn von 14 Jahren

36
besucht. Sie selbst ist 5 Jahre alt; Hände v. Füße haben Einfälle bey ihr. Sie

S. 39
läst sich von keinem küßen als meinem Baron; die andern bekomen

2
Maulschellen, ihn rufft sie: mein lieb Budbern – Aus eignem Trieb gab sie seinem

3
Hofmeister v. Deinem Bruder auch ein Mäulchen. Heute ist Mittwoch v. also

4
pro memoria
vmtl. im polem. Schlagabtausch mit
Gotthold Ephraim Lessing
um
Lauson,
Versuch in Gedichten
Gesellschaftstag in unsern Hause. Das gelehrte
pro memoria
in der Sache des

5
HE. Lauson habe ich durch HErrn Gericke Vorsorge gelesen. Ich habe es mir

6
in Gedanken recht emphatisch v. nach dem Leben von dem Prof. Bock
reciti
ren

7
laßen. Schreibart, die Vertheidigung des Staats, die
professions

8
Anmerkungen über die Reime v. bedrängten Zeiten laßen einen nicht viel rathen nach

9
dem Verfaßer. Lauson kann sich gut vertheidigen, wenn er will.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (12).

Bisherige Drucke

Walther Ziesemer: Unbekannte Hamannbriefe. In: Altpreußische Forschungen 18 (1941), 282–284.

ZH I 36–39, Nr. 14.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
38/23
laßen;
]
Geändert nach Druckbogen 1940; ZH:
laßen,