176
3/9
Konigsberg. den
9. Jänner 1760.

10
Mein lieber Bruder,

11
Gott laße die zurückgelegten Feyertage an Deiner Seele geseegnet seyn.

12
fl.
Gulden; hier vll. aber eher „gl.“ für Groschen (Groschen: Silbermünze [ca. 24. Teil eines Talers] oder Kupfermünze [ca. 90. Teil eines Talers]; in Königsberg war der Kupfergroschen üblich; für 8 Groschen gab es ca. zwei Pfund Schweinefleisch)
Gestern erhielte mein Vater einen Brief von Dir und bezahlte 10 fl. Fracht für

13
Paudel
litauisch: pudlar, längliches Kistchen
Schmidt
nicht ermittelt
eine Paudel an Fuhrmann Schmidt, der heute abgehen wird. Unser Alter ist seit

14
Flußfieber
„Febris catarrhalis, ein nachlaßendes Fieber, welches sich mit Flüssen auf der Brust vereinigt. Man macht einen Unterschied unter ein gutartigen [Catarrh] und bösartigem Flußfieber.“, vgl.
Krünitz
, Tl. 14, S. 420
Sonnabends bettlägerich gewesen und hat ein starkes Flußfieber gehabt, von

15
dem er sich aber heute schon sehr leidlich wieder befindet. Gott erhalte und

16
stärke ihn!

17
Du erhälst 6 Ober 6 Unterhemde; ein gebunden Buch, das unten liegt, etwas

18
Confect.
Herveys verlangte Schriften nebst den Fortsetzungen und 3

19
Ein Brief vom D. Luther
Möser,
Lettre a Mr. de Voltaire
Kleinigkeiten die ich ihm ausgesucht, liegen oben. Ein Brief vom
D. Luther,
den ich

20
unvermuthet vorige Woche hier gefunden von einem
Möser
, der eine
Tragedie:

21
Arminius
Möser,
Arminius
Arminius geschrieben unter den Titel:
Advocat.
p
Patriae, Secret.
der

22
H. Ritterschaft des Hochstifts Osnabrüg v Mitgl. der Göttingischen

23
Gesellschaft. 1749. Sein Styl im französischen muß beßer als im deutschen seyn. Von

24
seinem Trauerspiel kann wenig gutes sagen, als daß man einen sehr gedrehten

25
Witz und viele neue deutsche Wörter darinn findet. Sein Brief aber über Luther

26
ist vorzügl. und ich habe ihn mit ungemeinen Vergnügen gelesen, weil ich einen

27
Haufen meiner eigenen Gedanken darinn gefunden. Er beruft sich unter andern

28
Stelle des Voltaire
Voltaire,
Discours en vers sur l’homme
, dort heißt es im ersten Kapitel: „Les mouvements contraires sur ce vaste océan sont des vents nécessaires“. In Luthers Vorrede auf den Psalter heißt es in der Ausgabe von 1545: „Denn ein menschlich Hertz ist wie ein Schiff auff eim wilden Meer, welchs die Sturmwinde von den vier örtern der Welt treiben. Hie stösset her, furcht und sorge for zukünftigem Vnfal. Dort feret gremen her vnd traurigkeit, von gegenwertigem Vbel. Hie webt hoffnung vnd vermessenheit, von zukünfftigem Glück. Dort bleset her sicherheit vnd freude in gegenwertigen Gütern“ (WA DB 10 I S. 101/34ff.).
auf eine Stelle des
Voltaire
in seinem Versuch über den Menschen, die mit einer

29
Stelle Luthers in der vortrefl. Vorrede seines Psalters, an der ich mich nicht

30
müde lesen kann, sehr übereinstimmt. Ich will Dir letztere abschreiben, damit

31
Du sie mit der ersten, wenn die Sachen ankommen vergleichen kannst. „Ein

32
menschlich Herz ist wie ein Schif auf einem wilden Meer, welches die

33
Sturmwinde von den vier Oertern der Welt treiben. Hier stößet her Furcht und Sorge

34
für künftigen
Zu
Unfall: dort fähret Grämen her und Traurigkeit von

S. 4
gegenwärtigem Uebel. Hie webt Hofnung v. Vermeßenheit vom zukünftigen

2
Glücke: dort bläset her Sicherheit und Freude in gegenwärtigen Gütern“

3
Voltairens
Ausdruck ist
Prose
gegen dies Gemälde.

4
Schützens Vergl. der römischen und gr. Dichter mit den alten nordischen

5
Barden wird dem HE.
Rector
nicht unangenehm seyn und Winkelmanns

6
Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und

7
Bildhauerkunst machen dem deutschen
Genie
in den schönen Künsten Ehre. Ich habe

8
diese 3 Schriften für mich selbst ausgenommen nebst einigen andern, von denen

9
künftig mehr.

10
So viel vom überschickten. Melde mir doch mit erster Post ob Du vorige Post

11
überschickten Brief
an
Catharina Berens
, s.
HKB 175 ( II 2/26 )
überschickten Brief gleich abgegeben oder abgeben laßen. Es ist mir viel daran

12
gelegen, daß derselbe zu rechter Zeit eingetroffen, um alle wiedrige Eindrücke

13
zu verlöschen, und daß du ohne
Neugierde
und
Mistrauen
gegen mich den

14
Dienst der Bestellung mir erwiesen. Ich weiß, daß Du im Grund deines

15
Herzens es mehr wieder mich als mit mir hältst. Gib mir also Nachricht davon, ich

16
bitte Dich darum.

17
Du siehst es als ein Versprechen an mit der
Grammaire des Dames;
da ich

18
Dir doch sehr zweydeutig davon geredt. Mit dem Peltz ist es von Deiner Seite

19
ernsthafter versprochen worden, und du bist mir so wohl als dem Putz

20
denselben schuldig. Schäm Dich doch, wenn du kannst. Die
Grammaire des Dames

21
ist nicht hier ich lief noch am Heil Abend hin um sie auszunehmen; man hatte

22
deutsche Magazin
vll.
Beaumont,
Magazin des Enfans
sie aber nicht. Was das deutsche
Magazin
für Hänschen soll, weiß ich nicht. Sie

23
hat es ja franzosisch. Soll sie es Dir deutsch vorlesen. Meld mir doch, was Du

24
mit der Uebersetzung für Hänschen anfangen willst. Jetzt ist es zu spät gewesen,

25
sie dir zu schicken; ich will es künftig thun, wenn ich erst weiß,
cui bono?
und für

26
wen? für dich oder für Hänschen? oder noch für jemand anders? Ich habe bey

27
der
Gramm. des Dames
bloß für Deine Schülerinn gesorgt.

28
Ich habe den Anfang mit der
Iliade
machen wollen. Weil mir diese Arbeit

29
meine Ausgabe
nicht ermittelt, vgl.
HKB 174 ( II 1/15 )
aber durch meine Ausgabe gar zu unangenehm gemacht wurde; so habe sie biß

30
Edition der Iliad.
J. G. Hagers
Homeri Ilias
auf die Woche wills Gott aufgeschoben, und mir eine gute
Edition
der
Iliad.

31
Dionis Chrysostomi Rede
Chrysostomos,
Ilio non capto
angeschaft mit einer lateinischen Uebersetzung. Unterdeßen lese
Dionis

32
Chrysostomi
Rede
de Ilio non capto,
die ich unter meinen alten Sachen gefunden.

33
Traianus
Marcus Ulpius Traianus, 98–117 römischer Kaiser.
Traianus
soll diesen Sophisten so lieb gehabt haben, daß er ihn auf seinem

34
amo te …
„Ich liebe dich, wie mich selbst.“
Triumpfwagen neben sich setzen laßen und zu ihm gesagt:
amo te ut me

35
ipsum.

36
Meine alte Ausgabe des Homers, an den ich gedacht, ist sonst sehr nach

37
meinem Sinn. Ich werde aber durch die
Abbreuiaturen
und griechischen
Scholia

S. 5
zu sehr zerstreut, daß meine Aufmerksamkeit auf den Text dadurch geschwächt

2
wird. Deswegen will ich mit einer Uebersetzung anfangen, weil dadurch meine

3
Aufmerksamkeit auf das Griech. erleichtert wird. Meine
Iliade
ist
Hageri

4
Edition.

5
Ich laufe jetzt ein Buch durch, deßen Titel und
Recension,
so viel ich mich

6
deren aus den Zeitungen erinnern kann, sehr betrogen.
Grundsätze und

7
fl.
Gulden, Goldmünze, hier aber vmtl. 1 polnischer Gulden, eine Silbermünze, entsprach 30 Groschen.
Anweisung
die Redner zu lesen. Besteht in 3. Büchern, kostet 3 fl. Du kannst

8
Deinem HE. Wirth davon Nachricht geben, falls er dies Buch zur neuen

9
Auflage seiner
Rhetoric
nöthig haben sollte. Es ist nichts als eine Redekunst, die

10
aus den Alten zusammengesetzt oder vielmehr geflickt ist. Er
rechnet
zählet

11
die politische, (oder Staats,) die militairische (oder Kriegs), die geistl. oder

12
Kanzel- und die akademische oder Schulberedsamkeit.

13
Ich dachte hier eine Anweisung zu finden besonders die Alten Redner zu

14
lesen, und es fehlt uns auch an so einem Werke. Bey Durchlesung des

15
Chrysostomus und bey der Critik seiner Uebersetzer sind mir öfters Betrachtungen von

16
der Art eingefallen, die ich in diesem Buch auseinandergesetzt und entwickelt zu

17
finden hofte.

18
Wenn wir im stande wären die Alten nachzuahmen, dürften wir sie immer

19
ausschreiben, wenn wir was gründliches sagen wollen; und ist es nicht Schande,

20
daß alle unsere Redebücher oder
Rhetoriquen
schlechter sind, unendlich

21
schlechter, als was
Aristoteles
und
Quintil.
davon geschrieben.

22
Alle Anmerkungen des Winckelmanns über die Malerey v Bildhauerkunst

23
treffen auf ein Haar ein, wenn sie auf
poesie
und andere Künste angewendet

24
werden. Die
Odyssee
hat mir ein ganz neu Licht über die epische Poesie

25
gegeben. Bodmer und Klopstock haben beyde den Homer gewis studiert; sie haben

26
ihn aber nicht anders als im kleinen, im
detail
verstanden nachzuahmen.

27
Der Vorwurf, den man ehmals den Griechen machte, daß Sie die Künste

28
verrathen
,
gemein
gemacht und
entweyht
hatten, trift jetzt Frankreich.

29
Ihm haben wir es zu danken, daß es keine Kunst mehr ist Gespräche, Lust und

30
Trauerspiele und alles was man will zu schreiben.

31
Tode des Aeas
Soph.
Ai.
An so ein Trauerspiel, als dem Tode des Aeas, läst sich acht Tage lesen,

32
und die Mühe gereut einen nicht so ein Stück zu zergliedern, um den

33
mechanismum
deßelben so viel möglich zu ergründen: Was ist
Ulisses
für ein

34
Charakter! – – –

35
Brief
von
Johann Gotthelf Lindner
, nicht überliefert
Den letzthin überschickten Brief des HE. Mag. werde so lange aufheben, biß

36
seine
Mama
herschickt. Sie ist meines Wißens noch auf dem Lande.

37
Statte ihm im Namen unseres lieben Vaters und meinem eignen einen

S. 6
herzlichen Gegenwunsch ab. Zum Beschluß des Alten und zum Eingange des

2
Neuen Jahres. Gott gebe ihm und seiner lieben Frau alles Gute, wenns auch

3
ein junger Sohn oder junge Tochter wäre. Der
Caviar
wird mir herzl.

4
schmecken, weil ich recht lüstern nach demselben gewesen: Gegenschicken

5
kann ich hier nichts, – –

6
Der junge Berens
Adam Heinrich Berens
Der junge Berens ist hier und hat uns eben jetzt grüßen laßen auch

7
General
vll.
Carl v. Stoffel
versprochen heute zu uns zu kommen. Sein
General
soll hier seyn.

8
Mein Vater wird noch selbst ein paar Worte schreiben. Gott gebe Dir auch

9
mit diesem Neuen Jahre neuen Eyfer, neue Treue, und neue Kräfte zu Deinem

10
Beruf
Lehrer an der Rigaer Domschule
Beruf. Ich umarme Dich und bin Dein treuer Bruder.

11
J G Hamann.


12
Von Johann Christoph Hamann (Vater):

13
Mein Allerliebster Sohn!

14
Gott gebe dir zum Neuen Jahr was Dein Hertze und Ich dir wünsche, so wird dir

15
nichts mangeln an irgend einen Gute, Er gebe dir was dir nützlich und seelich um

16
Jesu willen Amen. Ich habe leider seit Sonnabend das Bette
hütten
müssen an einen

17
entsetzlichen Husten das ich von mir selber nicht gewust habe, doch heute spüre ich

18
einen Anfang guter Beßrung. Gott wolle mir helffen nach Seiner Liebe. ich sende dir

19
etwas zum heilgen Christ, es ist aber in eine Schlechte Hand gekommen die es sehr

20
unreine genehet und auch übel gewaschen; ich hoffe aber wenn Du Sie tragen würst

21
werden Sie weiß werden. ich befehle dich Göttlich obhut und danke vor deinen

22
liebreichen gestrichen Wunsch, Gott mache alles nach heilgen Willen, grüße HE. M.

23
Lindner u Seine Fr. Liebste u. danke Ihm u. wünsche Ihnen alles
Gutes
. Ich ersterbe

24
Dein treuer Vater J C. Hamann

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (66).

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, III 4–7.

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, I 260 f.

ZH II 3–6, Nr. 176.

Zusätze fremder Hand

6/13
–24
Johann Christoph Hamann (Vater)

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
3/21
p
]
Korrigiert nach Druckbogen 1940 (Streichung in ZH nicht geschlossen).
6/16
hütten
]
Geändert nach Druckbogen 1940; ZH:
hüten
6/23
Gutes
]
Geändert nach Druckbogen 1940; ZH:
Gute