178
7/13
den
12 Febr. 1760.

14
Mein lieber Bruder,

15
Dein Vater wartet mit Schmerzen auf Briefe von Dir. Du schiebst Deinen

16
Putz
wohl
Johann Gottfried Putz
oder dessen Sohn
Dank für überschickte Sachen lange auf. Der Pelz ist angekommen und Putz

17
hier gewesen. Wir danken herzl. dafür. Ich habe Dir lange nicht ordentl.

18
schreiben können; und will es heute suchen nachzuholen. Das letzte mal schrieb

19
auf dem Bett. Ich habe mich 14 Tage einhalten müßen; jetzt befinde mich Gott

20
Lob! gesund.

21
Ich werde erst einige Antwort auf Dein letztes Schreiben geben; und von

22
mir selbst anfangen. Du hast nicht nöthig in Gleichnißen mit mir zu reden.

23
Ich werde Dir nichts übel nehmen. Es ist eine
Gabe
Allegorien zu machen,

24
und Allegorien auszulegen. Sie beziehen sich auf einander. Ich habe Dir schon

25
geschrieben
vll.
HKB 154 ( I 385/5 )
bey einer andern Gelegenheit geschrieben, daß
Nachahmen
und
Nachäffen

26
Freunden
vor allem
Johann Christoph Berens
nicht einerley ist. Die Verhältnis in der ich mit meinen Freunden stehe, ist

27
ganz anders, als die Deinige, und vielleicht auch die ihrige gegen mich. Du

28
magst selbst Anlaß nehmen, nachzudenken. Wenn wir nichts als ein Spiel des

29
Witzes daraus machen, so üben wir uns dadurch in einem hämischen Witz, der

30
Wahrheit und Liebe den Pflichten aufopfert, um sich hinter den Schirm kützeln

31
zu können, gewöhnen uns an Verdrehungen, Doppelsinn. Ich habe für desto

32
nöthiger gefunden diese Erinnerung Dir zu thun, weil ich sehe, daß klügere

33
Leute sich nicht schämen meine Tadler und Nachfolger beydes auf eine nicht zu

S. 8
geschickte Art zu seyn. Es gehört also ein wachsames Auge auf sein eigen Herz

2
so wohl als die Gegenstände, mit denen man zu thun hat; und nicht eine bloße

3
Geschicklichkeit andern nachzuspotten. Einer kann sich Freyheiten aus

4
Leichtsinn nehmen, und sich das Exempel eines andern zum Muster stellen, deßen

5
alles zu prüfen …
1 Thess 5,21
Erkenntnis und Gefühl noch für ihn zu stark ist. Es ist uns befohlen, alles zu

6
prüfen, und das Gute nur anzunehmen. Ich halte es nicht für nöthig Dir die

7
Fehler in Deinen Anspielungen zu entdecken. Meynst Du, daß es eine Kurzweil

8
ist, solche Schüler vor sich zu haben, die zu schläfrig sind geistl. Dinge zu hören,

9
und die man ärgert, wenn man auf eine geistl. Art davon mit ihnen reden

10
wollte, daß man sich zu irrdischen Bildern herunterlaßen muß, wenn sie einigen

11
Begrif davon haben oder einige Lust dazu bekommen sollen. Wir können das

12
Verderben unsers Nächsten nicht sehen ohne an unser eigenes zu denken und

13
diese Rücksicht beugt uns; und diese Demüthigung giebt unserm Geiste Kräfte

14
und macht uns zu Wendungen aufgelegt, die ein gerad und steif denkender

15
Philosoph nicht nachzumachen im stande ist.

16
Das zweyte ist Dein Urtheil über Wagners Grammatik. Heist das Urtheilen,

17
mein lieber Bruder: „Sie ist
sonst
sehr gut und kann zur
Anleitung jeder

18
Sprachlehre dienen
; aber etwas zu kurz und ein bloßes Gerippe. Ich ziehe

19
Müllers
nicht ermittelt
Müllers vor.“ Deines Wirths Urtheil ist ein wenig feiner aber sieht nach eben

20
dem Bilde und der Ueberschrift aus, und ist d
ie
er verbeßerten Ausgabe

21
eines Buchs gleich, das niemals gut werden kann, wenn es auch zehnmal

22
verbeßert auskäme, weil es im Zuschnitt verdorben ist. Wir wollen nur so

23
aufrichtig seyn und bekennen, daß wir alle drey nicht stark genung im

24
griechischen sind um diese Grammatik zu verstehen; und daß sich ein Buch schwer

25
Kindern erklären läst, dem man selbst nicht gewachsen ist. Ein Schüler kann

26
sich bey einer mäßigen Lust und Fähigkeit mit Müllers Grammatik selbst

27
helfen, ohne
Praeceptor.
Wenn wir also einen Schüler fragen möchten:

28
welches Buch gefällt dir beßer? so würde er sich unstreitig für dasjenige

29
erklären, das ihm am
leichtesten
wäre. Denn alle Schüler haben Lust zu lernen,

30
und
Bequemlichkeit
, mit leichter Mühe zu lernen. Diese Denkungsart schickt

31
sich für keinen Lehrer, der seine
Gymnasia
sten abhärten will, und daher selbst

32
die Schwierigkeit nicht achten muß. Wenn lehren aber in nichts anders

33
besteht, als daß ich ein
Pensum
meinen Untergebnen aufgebe, daß er ohne

34
meine Mühe sich einprägen muß: so ist
Müller
und
Gottsched
ein

35
vortreflich Muster, das Lehrern und Schülern nicht sauer wird. Ein Gerippe muß

36
trocken und dem Gesicht unangenehm, von Adern, Sehnen und Fleisch

37
entblößt; wiedrigenfalls ist es ein Aas oder Luder. Diese dürre Knochen muß

S. 9
viua vox
dt. lebendige Stimme; s. Luthers Verwendung dieser Wendung in der Auslegung von Gal 4,20 in WA 57 II S. 34.
eben der Geist des Lehrers
bekleiden
und
beseelen
. Das ist
viua
vox
im

2
vox humana
Orgelregister (kurzbechriges Zungenregister), bes. zur Imitation der menschlichen Sangstimme.
Unterricht, eine Tochter einer
lebendigen Erkenntnis
, und nicht wie
vox

3
humana,
eine Orgelpfeife. Gründliche Einsichten sind nicht leicht, sie müßen

4
gegraben
Hamann,
Sokratische Denkwürdigkeiten
, SD S. 18, N II S. 65/13, ED S. 26
gegraben und geschöpft werden – –

5
den 19 Fastnacht

6
Wir feyren heute Fastnacht mein lieber Bruder. Gott laße auch diese Zeit

7
an Dir geseegnet und heilige auch einige Augenblicke Deiner Tage dem

8
Andenken unsers Mittlers und Fürsprechers. Ich habe Dir mit letzter Post nicht

9
Briefen
an
Arend Berens
, nicht überliefert; vgl.
HKB 179 ( II 11/24 )
schreiben können; weil ich eben mit meinen Briefen an HE Arend B. fertig

10
wurde. Dein Vater wartet mit Schmerzen auf Briefe von Dir, du hast in dem

11
letzten ihm Hofnung dazu gemacht, und nicht Wort gehalten. HE Carl B.

12
empfängt einen wilden Schweinskopf von mir; sollte schon vorige Woche

13
abgehen, ist aber kein Fuhrmann gefahren. Jetzt eben hat HE Wagner eine

14
Paudel
litauisch: pudlar, längliches Kistchen
Paudel dazu eingepackt an HE. J. C. B.
addressi
rt, worinn aber nichts als die

15
Journal de Commerce
18 Tle. 1759–62, ab 1762 fortgeführt als
Journal de commerce et d’agriculture
(Brüssel: Van den Berghen, dann Brüssel: De Bast)
10 Monathe vom
Journal de Commerce
an ihn sind, die gestern mit der Post

16
angekommen. Das übrige ist an HE Mag. Ein Säckchen von seiner
Mama

17
mit Grütze; einige Stricknadeln. Riegers Paßionsandachten nebst einem

18
lateinischen Buche habe für ihn hier ausgesucht. Die ersten kenne nicht; sind mir

19
aber von HE Trescho, einem guten
Recensen
ten, sehr gelobt worden, der mir

20
HE. Diac. Buchh.
Johann Christian Buchholtz
auch ein mal eine einzige Seite daraus vorgelesen. HE.
Diac.
Buchh. der

21
uns gestern besuchte hat mir dies Buch auch zu meiner Erbauung dieser Zeit

22
versprochen.
Lettre de Mr. Rouss. à Volt.
schickt
Kant
zurück an HE B.

23
Bengels Zeigefinger
Bengel,
Gnomon Novi Testamenti
Ich studiere jetzt mit viel Nahrung für mich
Bengels
Zeigefinger über das

24
N. T. Dieser Autor hat sich durch seine Ausgabe des N. T. und durch seine

25
chronolog
ische Versuche in der historischen und prophetischen Zeitrechnung

26
kleine Ausgabe
Bengel,
Novum Testamentum Graecum
, die Stuttgarter Octav-Ausgabe
berühmt gemacht. Du weist daß ich die kleine Ausgabe des ersteren besitze,

27
große
die Tübinger Quart-Ausgabe.
über die ich mich sehr freue. Die große habe gestern zum erstenmal gesehen,

28
und ich würde sie allen andern vorziehen, der Vollständigkeit des Textes, und

29
der Reinligkeit wegen, womit er gedruckt ist in 4. Er hat einen glücklichen

30
Te totum applica …
Übers.: „Wende dich ganz dem Text zu: die ganze Sache wende auf dich an.“ In Bengels Vorrede zur Oktav-Ausgabe auf S. 7
Ausdruck in Sinnsprüchen; einer der seinigen ist gewesen:
Te totum applica

31
υστερον προτερον
hysteron proteron, Umstellung (auch von Buchstaben), Umkehrung
ad textum: rem totam applica ad te.
Es ist ein
υστερον προτερον
in dieser

32
Sentenz.
Das erste muß das letzte. Je mehr der Christ erkennt, daß in diesem

33
Buch
von ihm
geschrieben stehet; desto mehr wächst der Eyfer zum

34
Schulmeisterinn …
Gal 3,24
Buchstaben des Wortes. Die Critik ist eine Schulmeisterinn zu Christo; so bald der

35
Magd …
Gal 4,30
Glaube in uns entsteht, wird die Magd ausgestoßen und das Gesetz hört auf.

36
Der geistl. Mensch
1 Kor 2,15
Der geistl. Mensch urtheilt denn; und sein Geschmack ist sicherer als alle

37
pädagogische Regeln der
Philologie
und
Logic.

S. 10
Der Titul von diesem Werk verdient daß ich ihn hersetze; weil der Autor

2
den Inhalt seines Werks sehr genau beschrieben hat.
Gnomon Noui

3
Testamenti in quo ex natiua verborum vi Simplicitas, Profunditas, Concinnitas,

4
Salubritas Sensuum coelestium indicatur operâ Joh. Alb: Bengelii.

5
Tubing.
742. 4. In der Vorrede führt der Autor einen sehr merkwürdigen

6
Ausspruch
Wohl eine Zusammenfassung von Bengel (
Bengel,
Gnomon Novi Testamenti
, § XIV der ‚Praefatio‘) von ähnlichen Aussagen Luthers, etwa: Spiritus sanctus habet suam grammaticam (WA 39 II S. 104/24). Vgl. auch
Hamann,
Wortfügung
, N II S. 129/6ff.
Ausspruch unsers
Luthers
an, der von dem philosophischen Geiste dieses

7
Mannes ein Zeugnis giebt:
Nil aliud esse Theologiam, nisi Grammaticam

8
in Spiritus Sancti verbis occupatam.
Diese Erklärung ist
erhaben
und nur

9
dem
hohen
Begrif der
wahren
Gottesgelehrsamkeit
adaequat.
Das

10
affectuoso
vor allem ein musikalischer Begriff: nachdrückliche Spielart
N. B.
Neuen Bundes
Patheti
sche und das
affectuoso
in der Schreibart der Bücher des N. B. ist ein

11
τα ηθη
Anmut, Beschaffenheit der sprachlichen Hülle; diese Wendung und die folgenden Begriffe in:
Bengel,
Gnomon Novi Testamenti
, § XV der ‚Praefatio‘.
Decorum
das Angemessene (bes. in der Rhetorik, der Sache nach wie auch in Bezug auf gesellschaftliche Konventionen)
Gegenstand;
τα ηθη
, oder das
Decorum
der andere. Von dieser Seite hat

12
man wenig Ausleger; und in dieser Betrachtung ist dies Werk ein

13
affectus und mores
leidenschaftliche Ergriffenheit und schicklicher Ausdruck
Hauptbuch.
Argumenta
haben Ausleger genung:
affectus
und
mores
gar keine oder

14
sehr wenige gehabt.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (68).

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, III 11–16.

ZH II 7–10, Nr. 178.