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S. 48
Riga den
29 April
/
10 May
1753.

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Liebster Freund,

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Gegenwärtigen offenen Brief an HE.
Secret.
Sahme vertraue ich Ihnen

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an zu bestellen, so bald Sie ihn können. Grüßen Sie unsern Freund u den

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lieben Hennings noch einmal besonders von mir. Die Bitte, die ich am Ende

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deßelben thue, werden Sie so gut seyn zu erfüllen. Ich bin krank gewesen v

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dachte nicht so gut davon zu kommen. Gott Lob! daß es nicht mehr zu sagen

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hat. Ich habe einen kranken Magen mitgebracht v. werde meinem Vater bey

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mehreren Jahren ähnlich werden. Die jetzige Witterung befiehlt mich noch

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einzuhalten v ich bin auch noch zu matt dazu. Es hat heute geschneyt wie im

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Winter nach dem schönsten Wetter, das wir schon hier gehabt haben. Wegen

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des Vorschlags bey HE. Mengden ist es jetzt unnöthig mit Ihnen zu reden;

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weil ich dies eher über der Post zu thun gedenke. Ich habe diese Woche wieder

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ein heis Eisen angreifen müßen, v weil ich noch nicht unten gespeist habe, an

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die Frau Baronin schreiben müßen, um mich über meinen jungen HErren zu

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beschweren v ihr einige nöthige Wahrheiten zu sagen. Weil mein halbes Jahr

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bald um seyn wird; so hab ich diesen Versuch mit Fleiß gethan um sie v. mich

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auf die Probe zu stellen. Ich kann mich über keine übele Begegnung

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beschweren; ich will aber mein Amt mit gutem Gewißen führen v allen
Vorwurf
, die

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man mir hernach machen könnte, so viel möglich zuvor zu kommen suchen.

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Ich weiß, daß ich einer Frau schreibe, die mich v. meine Absichten nicht

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versteht, sie hat aber die Schwachheit bey andern Rath zu holen, die mehr

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Einsichten wie sie haben. Man hat nicht das Herz mir etwas ins Gesicht zu sagen,

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v. ich habe ein Kind, das nicht sich noch mich ein wenig zu behaupten weiß;

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ein Kind aber, das mit der Zeit in seinem Vaterlande viel bedeuten soll v.

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kann. Sie hat bey meinem Briefe die Farbe gewaltig verändert; ist eine gantze

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Stunde mit demselben bey ihren Beichtvater gewesen v hat sich vorgenommen

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den hiesigen
General Superintendenten
darüber gar um Rath zu fragen. Ihr

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Oracel
der HE. von Kampenhausen ist auf dem Lande. Ein Herr, der viel

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Vertraulichkeit gegen mich neulich stellte, oder auch wirklich hatte. Ich will

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das meinige thun v im übrigen alles einer höheren Hand überlaßen, die das

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Schicksal der Menschen in ihrer weisen Macht hat. Meine Absicht ist theils

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diejenige, die ich Ihnen schon erst entdeckt habe, theils den Baron durch die Furcht

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der Schläge empfindlicher zu machen, die ich eben nicht Lust habe in Ernst zu

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brauchen. Sie wißen, wie der Herr v.
Charmois
einen guten Freund schilderte,

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imbecile
Dummkopf
es ist ein
imbecile
v diesen Charakter hat mein Baron. Ich habe mehr

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Mitleiden mit ihm als daß ich ihn wegen sr. Fehler aufhören solte zu lieben. Er

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macht aus allen seinen Arbeiten ein Spiel, über Kleinigkeiten außer sich, ohne

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Achtsamkeit auf das geringste das er redet oder thut, in dieser beständigen

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Ohnmacht von klein auf erzogen. Mein meister Zorn ist verstellt, er geht nicht

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von Herzen; er thut aber dem Leibe, wie ich merke eben den Nachtheil, weil ich

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mich in eben die Bewegungen
zu
setze
n
suche
, die dieser Affekt mit sich

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bringt, wenn er ernsthafft ist. Alte Weiber Thränen sind se. beständige

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Zuflucht, die ihm niemals versagen. Heute ist ein rußischer Bediente für ihn

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gemiethet, wie ich höre v wir werden noch einen undeutschen Jungen zu uns.

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Auffwartung bekommen. Ein großer Saal wird in diesem Hause gleichfalls

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jetzt gantz neu gebaut werden. Sie scheint ihren Staat jetzt auszudehnen, man

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redt von einer großen verlornen Schuld, die ihr aus Petersburg oder vielmehr

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ihres verstorbnen Bruders Erben wegen des Herzogs Biron soll ausgezahlt

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werden. Wie glücklich könnte sich mein junger Baron machen, wenn er sich

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wollte geschickt machen laßen seine Reichthümer zu brauchen. Ich will Ihnen

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eine Abschrifft meines Briefes, wenn ich Zeit haben werde, mittheilen; weil

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ich meine Eltern damit nicht beunruhigen mag v die Wirkung deßelben geruhig

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abwarten. Die Nachschrifft geht auf ein paar junge Herrn von Boye, die ihn

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in der Sünde der Selbstbefleckung angefangen haben Unterricht zu geben. Ich

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fieng einen Brief auf, der mir recht schien zugedacht zu seyn, in dem der jüngste

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S…reuision
nicht ermittelt
sich erkundigte, wie ihm die S…
reuision
bekommen wäre, die sie gestern

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zusammen gehabt hatten. Sie können sich den Auftritt vorstellen, den ich

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genöthigt war, mit meinen Untergebenen vorzunehmen. Er hat mir mit 1000

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Thränen versprochen nicht mehr hinzugehen v verwünschte diese Spiel Brüder

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kennen gelernt zu haben. Es sind windige Taugenichts, deren Umgang die

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Fr. Bar. bey Tafel einmal selbst nicht gut geheißen hatte; der Aßeßor

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Zimmermann
ein
Oncle
stimmte damit überein. Der HE. von Kampenhausen gestand

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mir sich wegen dieser Leute mit ihr beynahe verzürnt zu haben. Er hat ihr den

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Brief gegeben. Sie halten Tanzstunde mit dem jungen Baron. Den andern

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Tag, wie sie kommen, bittet sie sie selbst zum Abend Eßen. Kann man sich in

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so eine Frau finden? Ein närrischer Eigensinn ist an statt Vernunfft, nach der

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sie handelt. Sie schämt sich gutem Rath zu folgen v einfältiger als andere zu

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seyn. Was für ein Ehrgeitz! wie abscheulich! wie tum ist derselbe? Der B.

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scheut sich aus Furcht für mich zu Ihnen hinzugehen v sie sucht die Zeit des

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HE. Barons durch ihre Gesellschafft so offt sie kann zu verschwenden. Gedult!

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Dämpfen Sie das Feuer ihrer jungen Jahre! sagte mir der HE. von

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Kampenhausen bey seinem ersten Abschiede. Ich versprach selbige in Ansehung ms.

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Untergebnen aber nicht
deren
in Ansehung derjenigen, die an des Herrn B.

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Erziehung mit mir arbeiten sollen. Ich begreife nicht, wie ich mich die Gunst

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dieses HE. zugezogen habe; da er nicht die geringste Ursache gehabt hätte mich

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wie einen Menschen, den er nicht kennt zu schonen v. wenigstens etwas

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einzubilden, das ich mir hätte gefallen laßen müßen, wenn er auch Unrecht

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gehabt hätte. Ich verzweifele übrigens die Fr. Baronin klüger zu machen, v.

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traue mir dieses unmöglich zu. Wie schlecht wäre ich daran, wenn ich mir

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etwas vergeben hätte! Man kann mich mit gutem Gewißen nichts ins

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Ge
wißen
sicht beschuldigen v man hat das Herz auch Gott Lob! noch nicht dazu

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gehabt. Einfältige Auslegungen, Einbildungen, Verläumdungen, die man

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mir hinterrücks thut, dagegen darf ich mich nicht verantworten, v die gehen

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auch von selbst zu Grunde. Weiß man noch nichts in Königsberg von mir,

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gehen keine Nachrichten aus Liefland von mir über? Ich habe mich schon längst

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bey Ihnen erkundigen wollen. Belustigen Sie mich doch einmal damit, wenn

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Sie etwas wißen. Es kann seyn, daß man bisweilen bekannter ist, als man es

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sich einbildet v. Lust hat zu seyn. Schonen Sie mich nicht, es mag so

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kunterbunt seyn als es will.

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Was machen Sie? was machen Ihre v. meine Freunde? Grüßen Sie

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Lauson, Wollson v. ihren Herrn Bruder herzlich von mir. Dem Mietauer habe

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ich noch nicht schreiben können v ich schäme mich fast es Ihnen zu sagen. Ich

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habe gar zu wenig Zeit v. wenn ich welche habe, bin ich gar zu untüchtig dazu.

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Dieser Brief hätte vielleicht kürzer seyn sollen, liebster Freund? Ich will Ihnen

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recht geben. Man mag sein ♡ aber gar zu gerne ausschütten v ich habe es

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nöthig gegen Sie so vertraut zu seyn. Ich fordere von Ihnen mir weniger als

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andern meine Ausschweifungen übelzunehmen. Hab ich Recht dazu. Meine

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Eltern fodern Rechenschafft von mir; v ich halte mich für schuldig dazu. Mein

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Bruder will lange Briefe; v das ist das wenigste, was ich jetzt für ihn thun

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kann. Leben Sie wohl, Grüßen Sie Marianchen, wird Sie mir antworten v

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unter mehreren andern auch HE Gothan. Ich umarme Sie herzlich v. ersterbe

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Ihr Freund

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Hamann.


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bis zum Briefende mit wenigen Abweichungen wie
Brief Nr. 17
Hochwohlgeborne Frau, gnädige Fr. B.

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Da ich nicht mehr weiß, was ich mehr nachdrückliches dem Herrn Baron

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sagen soll, als ich bisher gesagt habe; so bin ich ganz erschöpft v. verzweifele

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etwas bey ihm auszurichten. Ich sehe mich täglich genöthigt ihn noch lateinisch

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lesen zu lehren v immer das zu wiederholen, was ich schon den ersten Tag

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meines Unterrichts gesagt habe. Ich habe eine menschliche Säule vor mir, die

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Augen hat ohne zu sehen, Ohren ohne zu hören, an deren Seele man zweiflen

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sollte, weil sie immer mit kindischen v. läppischen Neigungen beschäfftigt v.

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daher zu den kleinsten Geschäfften unbrauchbar ist. Ich verdenke es Ew.

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Gnaden nicht, wenn Sie diese Nachrichten für Verläumdungen v Lügen ansehen.

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Es kostet mir genung die Wahrheit
en
derselben stündlich zu erfahren; v es

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giebt Augenblicke, in denen ich mehr des Herrn Barons künftiges Schicksal

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als mein jetziges beklage. Ich wünsche nicht, daß die Zeit und eine traurige

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Erfahrung meine gute Absichten bey Ihnen rechtfertigen sollen. Ich bin

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genöthigt weder an Rechnen, in dem der Herr Baron so weit gekommen ist, daß

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ich ihn anfänglich habe Zahlen schreiben v. aussprechen lernen müßen, weder

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an frantzoisch noch an andere eben so
wichti
nöthige Dinge in Ernst zu

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denken; weil er nur immer zerstreuter werden würde, je verschiedenere Sachen

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ich mit ihm vornehmen wollte. Ein Mensch der nicht eine Sprache lesen kann,

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die nach den Buchstaben ausgesprochen wird, ist nicht im stande eine andere

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zu lesen, die nach Regeln ausgesprochen werden mus. Ich nehme mir die
Fr

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gerechte Freyheit dahero Ew. Gnaden um ein wenig Hülfe bey meiner Arbeit

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anzusprechen. Man wird dem HE. B. ein wenig Gewalt anthun müßen, weil

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er die Vernunfft oder Neigung nicht besitzt seine eigene Ehre v. Glückseeligkeit

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zu lieben
aus freyer Wahl zu lieben. Gewißenhaffte Eltern erinnern sich bey

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Gelegenheit der Rechenschafft, die sie für Gott v. der Welt von der Erziehung

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ihrer Kinder ablegen sollen. Diese Geschöpfe haben menschliche Seelen v. es

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steht nicht bey uns sie in Puppen, Affen, Papagoyen oder in etwas noch ärgeres

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zu verwandeln. Ich habe Ursache die Empfindungen v. Begrieffe einer

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vernünfftigen v. zärtl. Mutter bey Ew. Gnaden vorauszusetzen, da ich von dem

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Eifer versichert bin, den Sie für die gute Erziehung eines eintzigen Sohnes

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haben. Sie werden seinem Hofmeister nicht zu viel thun, wenn sie ihn als

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einen Menschen beurtheilen, der seine Pflichten mehr liebt, als zu gefallen

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sucht. Setzen Sie zu dieser Gesinnung die vollkommene Ergebenheit, mit der

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ich bin pp.

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N.S. Nehmen Sie nicht ungnädig, wenn ich bitte dies als keine Vorschrifft

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anzusehen. Es scheint, daß Sie, hochwohlgeborne Frau, eine gut gemeinte

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Vorsicht gegen des Herrn Barons Sitten für Eingrieffe in Ihre Einsichten

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angesehen haben v aus dieser Ursache, einen Umgang, den ich für nachtheilig

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gehalten, jetzt selbst zu unterhalten suchen. Ich habe wenigstens geglaubt, daß

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der HE. Baron das Alter zu dieser Art Sünden füglich abwarten können.

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Haben Sie die Gnade gegenwärtiges Schr
Es wird auff Sie ankommen,

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ob Sie gegenwärtigen Brief nach meinem Endzweck oder nach einigen

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Vorurtheilen wieder mich beurtheilen wollen. Ich bin gefast mich nach Dero

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Entscheidung zu richten.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 2 (2).

Bisherige Drucke

Heinrich Weber: Neue Hamanniana. München 1905, 11–15.

ZH I 48–52, Nr. 18.