254a
S. XIX
Königsberg, den
11.
ten
Septbr.
63.

2
Hochwolgeborner Herr,

3
HöchstzuEhrender Herr Geheimer Rath,

4
Gnädiger HErr!

5
Ew. Hochwolgebornen huldreiche Zuschrift vom 26.
Aug.
habe den 8
ten

6
huj.
richtig erhalten, da ich eben eine Stunde vorher zu Lesung derselben von

7
einem blinden Bettler durch seine Verkündigung des heutigen

8
SonntagsEvangelii war zubereitet worden. Dero geneigter Befehl zu einer

9
vertraulichen Eröfnung meiner Laage u. Aussichten ist eine Erleichterung meiner

10
Selbstliebe, u. überhebt mich einer überlegtern Antwort, die ich der

11
freundschaftlichen Begeisterung Ihres Antrages schuldig wäre. Um so kurz u.

12
Chaos von Sonnenstäubchen
Äquivalent für ‚Atom‘ in der Debatte über die Teilbarkeit oder Unteilbarkeit physikalischer Körper, nach
Lucr.
de rerum natura
, 2,116. Vgl. auch
Aesthaetica
, N II S. 215/14, ED S. 216.
umständlich als möglich zu seyn in einem Chaos von Sonnenstäubchen, mach

13
ich den Anfang mit einer Abschrift „meiner
Supplic
bey E. Königl.

14
Hochverordneten Kriegs u.
Domainen-
Kammer
engagi
ert zu werden unter

15
Erwartung einer könftigen Versorgung beym hiesigen
Licent- Accise-
oder

16
Zollwesen“


17
Allerdurchlauchigster …
vgl.
HKB 253 ( II 225/15 )
Allerdurchlauchtigster
pp

18
Ew. Königl. Majestät vergeben es huldreichst dem geringsten Ihrer

19
Unterthanen, der sich heute erkühnet die Bedürfniße seiner niedrigen aber

20
ehrlichen Dunkelheit ans Licht vor Ew. Kgl.
Maj.
Antliz zu stellen.

21
Ich beschließe Gott Lob! mit diesem Augustmonath das
33.
ste
Jahr

22
meines Alters u. habe nach einer ziemlich willkührlichen Abwartung des

23
Hofmeistern in Lief- u. Curland
1752–56
akademischen Laufes mit Hofmeistern in Lief- u. Curland, hierauf mit einer

24
Reise nach Holland u. England
1757/58
Reise nach Holland u. England, unter dem Mantel fremder

25
Angelegenheiten mir meine übrige Zeit vertrieben; endlich die lezten fünf (für das

26
Vaterland) trübe Jahre in meines Vaters Hause, theils zur Pflege seiner

27
grauen Schläfe, theils in einer gelehrten Muße, nach Herzenswunsch gelebt.

28
Da eine schwere Zunge u. Unvermögenheit der Aussprache nebst einer

29
eben so empfindlichen Gemüthsart als Leibesbeschaffenheit mich zu den

30
meisten öffentlichen Bedienungen untüchtig machen, ich aber zugleich Gefahr

31
laufen muß, das Theil meiner Gaben oder Güter bey einem
längern

32
Umgange der Musen zu verschlingen u. dann wie der verlorne Sohn im

33
Hunger zu verderben: so bleibt die Landesväterliche Weisheit u. Vorsorge

34
Ew.
Königl.
Maj.
für die Erhaltung u. Anwendung eines unnüzen Knechts

35
sein Trost.

S. XX
Weil ich blos für die Langeweil u. zu meiner eignen Demüthigung

2
studiert, so muß ich allen Aemtern entsagen, zu welchen die Qualität eines

3
Litterati
sonst erfodert wird, u. kann mich weder auf irgend einige

4
Verdienste beruffen, noch auf andere Bedingungen einlaßen, als daß ich zur

5
Noth leserlich schreiben u. ein wenig rechnen kann. Um gleichwol zu

6
Geschäften mich einiger maßen vorzubereiten, habe ich seit einigen Wochen bey

7
der Kanzelley E. hiesigen Magistrats zu arbeiten den Anfang gemacht, u. bin

8
durch diesen Versuch erwekt worden, Ew. Kgl.
Maj.
um die gnädige

9
Erlaubnis gegenwärtig anzuflehen, bey dero Hochv. Kriegskammer eine

10
gleichmäßige Probe meiner freywilligen Dienste ablegen zu dörfen, in

11
unterthänigster Hofnung, daß es mir durch diesen Weg gelingen könnte als ein

12
Invalide des Apolls
vgl.
HKB 152 ( I 368/13 )
Invalide
des Apolls mit einer Zöllnerstelle zu seiner Zeit begnadigt zu

13
werden. Gott selbst wolle mich mit dem redlichen Eifer u. klugem Gehorsam

14
ausrüsten, womit auch die kleinsten Befehle u. Winke Ew. Kgl. Maj.

15
verdienen nachgelebt u. erfüllt zu werden, von allen treuen Unterthanen u.

16
Bedienten des glorwürdigsten Monarchen, zu denen sich für den kleinsten u.

17
lezten bekennt u. auf dieß Bekenntniß mit pflichtschuldiger
Devotion

18
ersterben
wird.


19
Ew. Königl. Majestät

20
allerunterthänigster Knecht.


21
dorso dupli
d.i. auf der Rückseite der Kopie
Den 9.
Aug.
abends erhielte in
dorso dupli
folgende erwünschte

22
loser Freund
nicht ermittelt
Resolution, die ich eine Absolution nennen könnte, weil ein loser Freund meine

23
allerunterthänigste Bittschrift mit einer Beichte verglichen hat.

24
Supplicant
hat sich bey der Krieges u.
Domainen
Cammer Canzeley

25
zu melden, um daselbst als
extraordinai
rer Canzeley Verwandter in

26
Eidespflicht genommen zu werden, bis zu seiner weitern Versorgung sich etwa

27
Gelegenheit findet.

28
Signatum.
Königsberg, den 8.
Aug.
1763.

29
Königl. Preußische Krieges u.
Domainen
Cammer

30
Domhardt (President)
v. Wegnern
(Director) Poehling.

31
Poehling
Friedrich Wilhelm Poehling
, Kriegs- und Domänenrat in Königsberg
Bertram.
Cupner.
(als Räthe)


32
Den 10.
Aug.
hat der
Invalide
des Apolls seinem allergnädigsten

33
Mercur
Der Stab des Hermes oder Merkur ist ein Stab mit zwei Flügeln, der von zwei Schlangen umschlungen wird.
Könige geschworen, trat gleich in Arbeit mit einem Seufzer zu
Mercur,
der

34
den
Invalid
en
des Apolls zu erhören u. zu verjüngen scheinet, daß seine

35
Feder vielleicht einmal dem geflügelten Schlangenstabe seines jezigen

36
Schuzgeistes ähnlich werden wird. Würden Sie mir wol
anrathen
jzt

S. XXI
Hand […] Pfluge
Lk 9,62
zurükzusehen, als ich die Hand kaum an Pfluge geleget? Wie viel habe

2
ich schon durch diesen Schritt gewonnen, daß ich zwey
Privat
vorurtheilen die

3
Axt an die Wurzel gelegt, nämlich daß ich weder aus
Faulheit
noch

4
Stolz
mich dem Dienste des
Publici
bisher entzogen habe, sondern aus

5
Nieren u. Herzen
Ps 7,10
Gründen, die derjenige allein übersehen mag, der Nieren u. Herzen erforschet

6
u. der allein weiß die Werke u. die Gedult u. die Arbeit der Seinigen, aber

7
noch mehr ihre kleine Kraft – – –

8
Hiezu kommt die schmeichelhafte Einbildung von meiner

9
Unentbehrlichkeit für die häusliche Verfaßung meines alten Vaters, der über sein

10
Vermögen an die Erziehung seiner zwey Söhne gewandt, u. wenig Freude dafür

11
bisher eingeerndtet, unterdeßen ich Jahre lang über die Belagerung eines

12
unüberwindlichen Bruderherzens zugebracht habe.
Ohngeachtet
er jünger

13
als ich, hat ihm Gott schon in Riga eine sehr bequeme u. ungemein einträgl.

14
auch sonst vortheilhafte Schulbedienung angewiesen, die er niederlegen

15
mußte,
u. ohne durch Erfahrung gewizigt zu werden über ein abermaliges

16
beschwerliches u. kümmerliches Schulamt allhier in eine solche Unthätigkeit u.

17
verkehrten Sinn hereingerathen, daß man Ursache hat um die Erhaltung

18
seiner Sinne u. Vernunft besorgt zu seyn, wenn sich Gott nicht seiner

19
neu Herz […] neuen Geist
Ps 51,12
erbarmt, ihm ein neu Herz u. einen neuen Geist zu geben. Außer der

20
Last des Greisen u. des Knabens
Anchises und Ascanius (
Verg.
Aen.
, II, 707–725)
doppelten Last des Greisen u. des Knabens, die den Ausgang des
frommen

21
Helden
aus dem Brande Trojens verewigt hat, verzehret mich seit

22
Zorn eines Achills […] Sclavin
gemeint ist Briseïs, die von Achill erbeutet wird (
Hom.
Il.
, 1)
2. Jahren der Zorn eines
Achills
um eine Sclavin, die meines Vaters

23
Hamadryade
Die Hamadryaden sind Baumnymphen des griechischen Altertums, Seelen des Baumes. Gemeint ist
Anna Regina Schumacher
.
Magd u. eine Hamadryade ist, der ich die Erstlinge meines Leibes

24
gelobet. – –
Verachten
Sie nicht, Gnädiger Herr! Ihren neuen Freund. Seine

25
Gewißens Braut ist eine vierschrötige Baurin, die ihre Tugend ohne eine

26
Verwandlung
wie Daphne vor der Verfolgung durch Apoll (
Ov.
met.
, 1,452–566)
Verwandlung in einen Lorbeerbaum erhalten hat; aber ihr Gemüth ein

27
Cabus
Kohlkopf
Cabus;
das Fußgestell einer Gedächtnis
Säule.
Außer dieser Arbeit um

28
Kebsweib
Konkubine
Bettet ich mich …
Ps 139,8
ein gemeines Kebsweib (bey der ich mit David schreyen
gelernt;
Bettet ich

29
Ulyßischer Irrsahl
Odyssee
mich in die
Hölle
, so bist du auch
da
–) wartet ein Ulyßischer Irrsahl

30
Kattunka
Koseform für
Catharina Berens
, vgl.
Hamann,
Klaggedicht
, ED S.51.
Muse mit röthl. triefenden Augen
vgl.
HKB 153 ( I 376/12 )
auf
mich
um meine Kattunka zu verdienen, die meine Muse mit röthl.

31
Maintenon
wohl Françoise d’ Aubigné, Marquise de Maintenon (1635–1719), Maitresse Ludwigs XIV. von Frankreich und seit 1684 dessen zweite Frau
triefenden Augen ist, ohne Schmeicheley Züge einer
Sevigné
u.
Maintenon

32
Michal, Sauls Tochter …
1 Sam 18,20
an sich hat, u. wie eine Fürstin denkt, aber leider! eine
Michal
, Sauls

33
Tochter ist, die den Psalmisten liebte u. gleichwol verachtete.

34
Sie werden, Hochwolgeborner HErr! aus diesem rohen Entwurf die

35
Spuren einer Laufbahn finden, die eine höhere Hand mir vorgezeichnet hat,

36
u. mich zugl. zu alle dem untüchtig macht, was andern u. mir selbst gelüsten

S. XXII
rothes Meer …
2 Mo 14,13ff.
möchte. Wenn man ein rothes Meer vor sich u. ein feindliches Heer im

2
Rüken hat; so ist der beßte Rath, den Moses u. die Propheten uns geben

3
können,
fest zu stehen
u.
zuzusehen
u.
stille zu seyn
. U. hiezu wird

4
mich Gott stärken.

5
Ich überlaße daher Ew. HochEdelgebornen gänzlich die rundeste u.

6
anständigste Erklärung meines Sinnes über Sich zu nehmen; daß ich
ältere

7
u.
festere
engagements
für mich hätte, u. mir nicht einmal könne einfallen

8
laßen den geringsten Bedingungen zu einer so wichtigen Stelle nur einiger

9
Facilité …
Anspielung auf Hamanns Stottern
maaßen ein Genüge zu leisten. Die
Facilité
fällt bey meiner natürlichen

10
Sprache ohnedem weg. Selbst die hinlängliche Stärke in Wißenschaften

11
fehlt
mir;
bey mir ist alles Stükwerk u. Fragmente, besonders in solchen

12
Fächern, die für wesentlich gehalten werden u. es zuweilen auch wirklich

13
sind. Ein Gedächtniß wie ein Sieb, das in der Historie, Heraldic,

14
Genealogie, Geographie bey allen wiederhohlten Versuchen nicht die

15
Anfangsgründe, die jeder gemeiner
Præceptor
weiß, hat gründlich u. fest sich

16
einprägen können, u. dem es schlechterdings an einem nothdürftigen System

17
fehlt.

18
Ein Herr von
10.
Jahren, sagt mein Beichtvater! Der ehrliche Mann

19
weiß aber nicht, daß es mit den Wißenschaften sich beynahe wie mit der

20
Schrift verhält, u. daß der
Anfang
unserer Übersezungen mit dem

21
Ende des Grundtextes übereinkommt. – Ein Fürst, der ein
verkehrtes
Volk

22
Principe de Convenance
Bequemlichkeit
liebt, kommt mit dem
Principe de Convenance
weiter als mit dem beßten

23
moralischen Charakter, der ohne einer neuen Geburt mehr Schaden als

24
Gewinn ist. Meine ganze bisherige Lebensart, meine natürliche u. besonders

25
gegenwärtige Gemüthsart reimt sich gar nicht zum Hofleben. Ich habe kein

26
stumpfes Gefühl des Wohlstandes, aber mit dem Mechanismus komm ich

27
gar nicht fort, so bald selbiger von mir erwartet oder darauf gesehen wird.

28
Ew. HochEdelgebornen werden das Land beßer als ich kennen, wo auf

29
Kosten der Sitten der Wohlstand u. zum Nachtheil der Religion, die im

30
Geist u. Wahrheit
Joh 4,23
Geist u. Wahrheit besteht, der moralische Charakter der
privilegi
rte

31
Hausgöze ist.

32
Beylage
Anfrage, ob Hamann Erzieher des Hessen-Darmstädtischen Prinzen Ludwig werden wolle
So sehr sich auch meine Eitelkeit in die Beylage mit dem
verguldtem

33
Schnitt verliebt hat, auf den eine Fürstl. Hand meinen Namen geschrieben;

34
so bin ich doch zu gewißenhaft Ew. HochEdelgebornen diesen Anfang zu

35
einem Brief, der an Sie gerichtet gewesen, zu entziehen, begnüge mich daher mit

36
einer
Copia
davon u. statte meinen ergebensten Dank für die geneigte

37
Mittheilung deßelben ab. Da jede menschliche Wahl auf Vorurtheilen beruht, Gott die

S. XXIII
unwürdigsten seines Gnadenberufs würdigt, hingegen unter dem Begriff

2
des Würdigsten oft die traurigsten Folgen versiegelt
liegen;
so mag ich

3
eine
freundschaftliche Bitte
– im
Vertrauen der väterlichen

4
Vorsorge
Ihr Augenmerk vorzüglich auf einen
gebornen

5
Unterthanen
der regierenden Landesherrschaft zu richten u. mehr den

6
Geschmak des
jungen Prinzen
als
die durchläuchtigen
Eltern zu

7
Rath zu ziehen.

8
Schaafe […] zurükzukommen
frz. Wendung: Retournons à nos moutons aus
La Farce de Maître Pathelin
(1457), im Sinne von: zum Thema zurückkommen.
Auf meine Schaafe wieder
zurükzukommen
, so ist die Kammer Kanzelley

9
eine Schule, in der man arbeiten u. waker lernen kann, daß man schwarz

10
oder vielmehr grau wird, um mit der Zeit das mäßige Gehalt eines

11
Ordinarii
eines bestallten Beamten
Ordinarii
zu erhalten. Ich diene also bisher
um Gottes willen
. So sehr

12
ich es mir aber sauer werden lasse, eben so dringend werde ich seyn, die

13
Schweizertreue
Die Schweizer galten als besonders redlich.
Bedingungen meines
engagements
zu beschleunigen. Schweizertreue u.

14
Schweizerlohn. Ich bin daher entschloßen auch mit der geringsten Thorschreiber

15
Rolle für lieb zu nehmen u. Gott dafür zu danken; da just alle Posten

16
Invaliden
des Siebenjährigen Krieges; „jezt“: nach dem Frieden von Hubertusburg (15. Februar 1763)
von
Invalid
en bestürmt u. besezt werden, u. jezt mancher
Officier
mit

17
den Stellen für lieb nehmen muß, die sonst von
Bedienten
der
Minister
u.

18
Subminister
so unschiklich verwaltet wurden. Man schämte sich daher der

19
einträglichsten u. beßten Aemter, weil weder
Litteratur
noch Adel etwas von

20
ihrer Ehre vergeben wollte. Da der leztere den Anfang gemacht diese

21
Zärtlichkeit aufzuopfern, so ist es kein müßiger Einfall gewesen den Titel eines

22
Invalid
en
zu meinem u. meiner Brüder Vortheil mir zuzueignen. Weil

23
aber kein
Invalide
selbst zu einem Dienste Ansprüche machen kann, der nicht ein

24
Gnadengehalt genießt (die
oeconomi
sche
Gründe,
laßen sich leicht errathen)

25
so fehlt mir unumgängl. eine
Pension
um diesen Charakter
rechtskräftig
zu

26
machen. Auf diesen Schritt, den ich so bald als möglich thun werde, mag

27
alles übrige ankommen. Sollte ein Monarch, der reich genug ist, wie das

28
Gerüchte behaupten will, einen
A…
deßen Vorrede zu einer aufgewärmten

29
Encyclopædie
so unglükl.
gerathen
mit einem jährlichen Gehalt von

30
Thrl. Altgeld
Taler, meist ist der 24 Silbergroschen entsprechende Reichstaler, eine im ganzen dt-sprachigen Raum übliche Silbermünze, gemeint (Groschen: Silbermünze [ca. 24. Teil eines Talers] oder Kupfermünze [ca. 90. Teil eines Talers]; in Königsberg war der Kupfergroschen üblich; für 8 Groschen gab es ca. zwei Pfund Schweinefleisch).
Philosoph von S. S.
S. S.: Sanssouci,
Friedrich II. v. Preußen
20000.
Thrl. Altgeld in Silber einfaßen zu laßen, sollte der Philosoph

31
von
S. S.
sein Herz gegen einen Unterthanen verschließen können, der ihn

32
göttlich schönen Pflichten
aus
Gellerts
Gedicht „Reichtum und Ehre“; die Strophe: „Such’ solche Freuden auf, die still dein Herz beseelen / Und, wenn du sie gefühlt, dich nicht mit Reue quälen! / Dein Freund, dein Weib, dein Haus sind Welt genung für dich / Such sie durch Sorgfalt dir, durch Liebe zu verbinden, / und du wirst Ehr und Ruh in ihrer Liebe finden. / Ein jeder Freundschaftsdienst, ein jeder treuer Rath, / so klein die Welt ihn schätzt, ist eine große That. / Auch in der Dunkelheit giebts göttlich schöne Pflichten, / und unbemerkt sie thun, heißt mehr, als Held, verrichten.“
um sein täglich Brodt bittet, die göttlich schönen Pflichten der Dunkelheit

33
Kenner […] Selig seyd ihr Armen
Mt 5,3
dem Beyfall der Helden vorzieht, u. dem
Kenner
glaubt, der seine Augen

34
aufhub u. sprach: Selig seyd ihr
Armen
– – –

35
+ u. -
das Plus und Minus, vgl.
HKB 254 ( II 228/18 )
Ich habe das + u. − gewählt, weil die
Beweise
hier am beßten

36
statt
finden,
u. große Herrn zu Anhörung derselben mehr
gelegene Zeit

37
übrig haben als zu den abstracten Grillen von der Gerechtigkeit u. von der

S. XXIV
Keuschheit u. von dem zukönftigen Gericht, die ohne dem durch einen

2
Coccejer
Carl Joseph Maximilian von Fürst und Kupferberg (1717–1790), hier benannt nach dem Großkanzler Samuel von Cocceji (1679–1755), mit dem er in Preußen eine Justizreform durchführte.
Coccej
er schon erschöpft sind.

3
Ohngeachtet ich nicht wißen kann, wie Ew. HochEdelgeb. bey Lesung

4
dieses verwirrten Geschwätzes zu Muthe seyn wird, so vergeben Sie es der

5
Verlegenheit u. Eilfertigkeit, mit der ich Sie u. mich befriedigen muß. –

6
Die Gloke schlägt wider Vermuthen. – Sie haben mehr als zuviel, um

7
in der
Hauptsache
zu Ihren fernern Maaßregeln befriedigt zu seyn.

8
Da Sie kein Bedenken gefunden, sich einem Unbekannten so vertraut zu

9
entdeken, so halt ich es noch für meine Schuldigkeit, Sie über den Gebrauch

10
Ihrer geneigten Zuschrift mit wenigen zu berichtigen. Ich lebe hier ohne

11
viele Verbindungen u. besuche fast gar keine Gesellschaften, daß ich vielen

12
Anlaß zu einer unnüzen Waschhaftigkeit haben sollte. Unterdeßen hab ich

13
mich aus besondern Ursachen nicht entbrechen
können
Dero Zuschrift bis

14
auf
eine
Stelle meinem Beichtvater (der von meiner
GewißensEhre
weiß,

15
u. seit kurzem Kirchen u. Schulrath geworden, auch mein
beßter

16
Lehrmeister in der Schule gewesen) ganz mitzutheilen. Außer meinem leiblichen

17
Vater hab ich niemanden an dem
Ganzen
Theil nehmen laßen. Aber es

18
ist mir unmöglich gewesen, zum Beweise der edeln
Denkensart
u. der

19
Proben, die ich davon gezogen, den Innhalt der Ehre, die Ew.

20
HochEdelgebornen mir erwiesen, meinen wenigen Bekannten zu verschweigen. Außer

21
dem Antheil, der ihnen schuldig ist, geschieht es mit Rührung gegen den

22
Geber aller guten Gaben, u. zum Beweise deßen, was geschrieben steht:

23
der HErr …
Ps 115,12
der HErr denkt an uns u. seegnet
uns‥
Ps.
CXV.

24
Bey dem bösen Gewißen u. den Vorwürfen, die ich mir gegen das

25
schöne Geschlecht machen muß, unterstehe ich mich nicht, einer Freundin

26
meines Gnädigen Gönners vor Augen zu kommen, noch mich einer Hütte der

27
unschuldigen Zärtlichkeit mit besudeltem Herzen zu nahen.

28
finstern Thal
Ps 23,4.
Doch da ich in dem finstern Thal den Ausgang meines Schiksals nicht

29
absehen kann, so bin ich nicht sicher, wie lange meines Vaters Haus u. mein

30
Vaterland mich noch leiden werden. In diesem Fall mögen Sie mich

31
adop
tieren, oder zu einem Ihrer Taglöhner machen. Fürchten Sie nicht, daß

32
ich Ihrer Gunst u.
Protection
alsdenn unwürdiger als jezt seyn werde.

33
Der Anfang meines Briefes sieht einer
Copie
ähnlich. Aber im
Journal

34
meiner
extraordinair
en Cammer Canzelley Verwandschaft am Tage des

35
Pour etre Original …
wohl ein Eintrag im Bürojournal
27.
Aug.
der mein Geburtstag war, heist es:
Pour etre
Original
il

36
faut faire des Brouillards. J’en ai fait deja et j’en ferai encore d’une

37
nouvelle Trempe. Amen.

S. XXV
Ich umarme Sie mit den aufrichtigsten Gesinnungen des dankbarsten

2
Herzens u.
den besten
Wünschen des göttlichen Seegens u. der Fülle, die

3
leibhaftig gewohnet u. seine Gegenwart den Seinigen verheißen hat bis am

4
Ende der Tagen – – Könftig mehr; unterdeßen vergeßen Sie nicht

5
Ihren

6
Fin.
den 13.
ewig verpflichteten Freund

7
u. ergebensten Diener

8
Hamann.


9
den 15.
ejusd.

10
N. S.

11
Ew. Hochwolgebornen wenigstens mit einer geschwinden Antwort

12
aufzuwarten, war meine Absicht. Durch einige Zufälligkeiten ist selbige nicht

13
erfüllt worden, ohngeachtet mein Vater selbst die Mühe auf sich genohmen

14
ihn auf die Post zu
bringen
– Also hilft zum Laufen nicht schnell seyn.

15
Meßen Sie die Nachläßigkeit meiner Schreibart keinem Mangel der Ihnen

16
schuldigen Ehrerbietung zu; sondern es fehlt mir wirklich an Zeit. Meine

17
Gesundheit hat überdem einige Zeit her einen Anstoß bekommen, daß ich

18
Blut gelaßen
Aderlass (Entnahme von Blut ), Heilverfahren seit der Antike auf Grundlage der Säftelehre
mich auf Sonntags Blut gelaßen, aber ohne sonderliche Beßerung. Und

19
ich kame des Abends so müde zu Hause, daß ich zu nichts aufgelegt bin,

20
bey Lichte meine Augen schonen muß u. meines Alters wegen auch nicht

21
füglich auf seyn kann. Ich bin des Lebens so überdrüßig u. satt, daß ich oft

22
nicht weis, was ich auf der Erde mehr
nüze
bin. –

23
Ich habe es nicht der Mühe werth geachtet, den Punct der

24
Nicolaiten
Berliner Kreis um
Friedrich Nicolai
Nicolai
ten
zu berühren. Hätte es der Verleger nicht in Ansehung meiner thun

25
wollen, da ich gleichwol mit ihm in Verbindung gestanden, u. noch vor ein

26
geschrieben
nicht ermittelt
Paar Monaten an ihn geschrieben, auch im
PS.
meine Empfindungen über

27
Daniel in der Löwengrube mitgetheilt durch einen bloßen Wink, so hätte

28
Nicolai
doch ein wenig mehr Achtsamkeit von der andern Seite zeigen sollen.

29
Da ich meine Absichten erreicht (die gar nicht oder falsch angewendt worden

30
zu ihrem Nachtheil) u. der
theoretische
Theil wol sein Ende erreicht

31
haben möchte; so geht mir das übrige kaum viel mehr an.

32
Ew. Hochwolgebornen werden vielleicht just im Stande seyn, die

33
Dunkelheit meiner Autorschaft gelinder zu beurtheilen, als andere. Nach den

34
Eindrüken deßen, was ich gesehen u. gehört, hat sich die Stärke des

35
Irrgeistes richten müßen. Meine Leser können dabey so sehr nicht leiden als

36
der Verfaßer selbst. Ich habe es schon erlebt, daß ich den
Nachdruk

S. XXVI
mancher Stellen
in ihrem ganzen Umfange ein Jahr hernach erst selbst

2
verstanden habe.

3
Bey der Beurtheilung des Herrn u. Dieners lag mir einer meiner

4
einer meiner beßten Freunden
Johann Christoph Berens
beßten
Freunden u. Wolthäter im Sinn
, dem ich den ersten Geschmak

5
zu den schönen Wißenschaften, u. da er ein Projectmacher wurde, den

6
ersten Geschmak zu den politischen Anfangsgründen zu verdanken habe.

7
Auf sein Zureden sollte ich ein Kaufmann werden, that auf seiner Brüder

8
Sprachenverwirrung
Anspielung auf
1 Mo 11,1–9
, um das Verhältnis zur Familie Berens zu illustrieren.
Kosten eine Reise, u. weil eine Sprachenverwirrung den ganzen Bau

9
unterbrach, so habe ich just von meiner Mutter Theil den Anfang gemacht wider

10
ihren Willen die Reisekosten zu
ersezen
, etwa bis zur kleinen Hälfte, die mir

11
noch übrig bleibt mit Gottes Hülfe ihnen auch zu
ersezen
. Da Gott meinen

12
Vater gesegnet, ich einzeln bis dato lebe, ihre Familie aber stark ist, u. die

13
Zerreißung der Verbindungen von mir geschehen, so hat dieß die Billigkeit

14
in meinen Augen erfodert. Ich bin dadurch bis aufs nothdürftige

15
eingeschränkt. Unterdeßen weil mein alter Vater, so lange ihn Gott erhält,

16
mir freyen Tisch u. Wohnung gestattet, so wird Genügsamkeit u. Gottes

17
Seegen auch noch genug machen.

18
Sollte dieser Anfang eines Briefwechsels nicht Ew.
Hochwg.

19
abschreken, so bitte mir die Erlaubniß aus, nach Maasgebung meiner

20
Umstände das Gedächtniß Ihrer Freundschaft bisweilen erneuern zu dörfen.

21
Ich hoffe bald einer mehrern Muße u. Munterkeit fähig zu werden u.

22
falls die Eilfertigkeit, womit ich einige Puncte berührt habe, eine nähere

23
Bestimmung erfoderte, oder sonst dero Wünschen von mir auf irgend eine

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Art genüge geschehen könnte, wird mir jede Gelegenheit erwünscht seyn Sie

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von der Herzlichen Zuneigung u. Ehrfurcht zu überführen, mit der ich ersterbe

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Ew. Hochwolgebornen

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Meines Höchstzuehrenden H. Geheimen Raths

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gehorsamst ergebener H.

Provenienz

Eine Abschrift des Briefes von Johann Caspar Lavater, aufbewahrt in Zürich, Zentralbibliothek, Signatur FA Lav. Ms. 510.269 und FA Lav. Ms. 510.271. Original verschollen. Letzter Aufbewahrungsort unbekannt.

Bisherige Drucke

Walther Ziesemer: Unbekannte Hamannbriefe. In: Altpreußische Forschungen 18 (1941), 292–298.

ZH III XIX–XXVI, Nr. 254a.