255a
XXVI/29
Königsberg den 10.
Nov.
63.

30
Hochwolgeborner Herr,

31
Gnädiger Herr Geheimer Rath,

32
HöchstzuEhrender Gönner u. Freund!

33
Die Zeit währt mir zu lange auf eine Gelegenheit zu warten, um auf

34
Zuschrift
nicht ermittelt
Ew. Hochwolgebornen geneigte Zuschrift vom 8.
Octbr.
zu antworten,

35
besonders aber denenselben meinen aufrichtigen Dank dafür zu bezeigen, daß

S. XXVII
hyperboreischen
im hohen Norden; gemeint ist Hamann selbst, der ‚Magus in Norden‘, im Titel von
Moser,
Treuherziges Schreiben eines Layenbruders
Sie die hyperboreischen Schriftsteller einer so vorzüglichen Aufmerksamkeit

2
Berlinschen Kunstrichtern
der Kreis um
Friedrich Nicolai
würdigen. Bey unsern
Berlinschen
Kunstrichtern habe durch

3
wiederhohlte Erinnerungen nicht so viel
gewinnen,
daß sie sich der Schweiz etwas

4
entzogen u. sich unsern Gegenden aus Liebe des Vaterlandes genähert hätten.

5
Üebrigens
stehe mit dem kleinen Versucher im Denken u. Empfinden weder

6
auf einen vertrauten noch geschiedenen Fuß. Bey dieser gleichgültigen

7
Entfernung lieb ich ihn wirklich mehr als viele seiner Freunde, die nicht so

8
vorsichtig, auch nicht so glimpflich mit ihm umgegangen, u. er hat mir

9
niemals zu den Beschwerden einigen Anlaß gegeben, womit ihn andre beschuldigt,

10
sondern mir mehr Merkmale unschuldiger Gesinnungen geliefert, als ich

11
ihm erwiedern mögen. Ohngeachtet ich einige mal angesezt im Briefwechsel

12
non possum dicere: quare?
dt. Ich kann nicht sagen, weshalb (
Martial
, Epigramme, 1,32)
zu stehen, hab ich nicht möglich gefunden lange auszuhalten,
non possum

13
dicere: quare?
Es mag aber auch hier vielleicht heißen, daß
Prüfung

14
Nachsicht
lehrt, wie Erfahrung
Gedult – –

15
Um mir ein wenig Muße zum Schreiben zu verschaffen, hab ich den

16
sonderbaren Einfall gehabt, mir heute einen Feyertag selbst zu geben, wozu

17
mich ohnedem mancherley Nebenursachen berechtigen. Unter andern giebt

18
einer
der
ältesten Freunde, der als
Hof
Doctor
beym Herz. Carl in Curland

19
Cousine unsers Cammer-Präsidenten
Henriette Marie Amalie Lindner, geb. Wirth
, die Cousine des Kammer-Präsidenten
Johann Friedrich Domhardt
gestanden,
mit einer
Cousine
unsers Cammer-Präsidenten ein vornehmes

20
Hochzeitgelag. Dem Bruder des Bräutigams bin ich eine Antwort

21
schuldig, die ich heute abgelegt. Er hält sich in Braunschweig
auf
um ein

22
Paar Curl. Edelleute nach Paris u. Italien begleiten zu können. Der

23
älteste von diesen
3.
Lindner
veranlaßte die Hirtenbriefe des   
.
So

24
gleichgiltig Ew. Hochwolgeb. diese Nachrichten vorkommen müßen; so weiß ich es,

25
mit was für einem Gewühl von Empfindungen Selbige hier beytrage.

26
Da ich nächstdem heute den vierteljährigen Geburtstag meiner

27
extraordinair
en
Canzley
Verwandschaft
bey einer Martinsgans begangen u.

28
denjenigen gelobt habe, der mir gerathen hat; besorge ich gleichwol, daß mich

29
meine Nieren des Nachts züchtigen werden, weil die Richtigkeit Ihrer

30
Anmerkungen über die currente Versorgung mit meiner Erfahrung genau

31
Welt, die betrogen …
lat. „mundus vult decipi, ergo decipiatur“; dt. „die Welt will betrogen sein, also soll sie betrogen werden“ (u.a. Sebastian Franck,
Paradoxa Ducenta Octoginta
[Ulm 1534], CCXXXVIII).
übereinkommt. Es ist freylich kein Wunder, daß in einer Welt, die betrogen

32
seyn will, das
Ergò
so leicht ist, daß in einem Lande voller Invaliden das

33
krumme Holz am meisten gesucht wird u. endlich daß Krüken in allen

34
Ständen die Stellen der Mitglieder vertretten müßen. Von Regeln

35
levitische […] Ziklag
5 Mo 18,1
u.
1 Sam 30,14
verfolgt bleiben also Ausnahmen meine Freystädte – wo nicht levitische, so

36
sey es Ziklag, im Lande der unbeschnittenen Philister.

37
Encyclopädisten
vgl. die Berufung von
Jean-Baptiste-le-Rond d’Alembert
zum Präsidenten der Berliner Akademie
Daß es mit dem Encyclopädisten kein Ernst gewesen, sieht man wol.

S. XXVIII
Mit dem Orden des Herrn von
Bilefeld
muß es natürlicher zugegangen seyn.

2
Ich habe bisher noch kein Herz gehabt seine
Institutions
zu lesen, u.

3
zweifele, daß ich mich so leicht dazu entschließen möchte. Desto dringender

4
Fehler
vgl.
Moser,
Treuherziges Schreiben eines Layenbruders
(Einzeldruck 1762), 11f: „Sagen Sie Ihre Lehren und was zur Staats-Kunst gehört, dem Herrn von Bielfeld, dem Königlichen Pädagogen; dieser möchte noch eher in dem an mir gerügten dreyfachen Fehler und einem noch grössern stecken, den sie nicht einmal nennen.“
aber wäre meine Neugierde, denjenigen Fehler zu kennen, den der

5
Layenbruder S.
12.
im Sinn
gehabt;
weil keine Magie helfen will, das vierte zu

6
drey zu finden. Mit einer kurzen Erörterung hierüber würde mir daher

7
sehr gedienet seyn.

8
Leipziger Beylage
wohl
Moser,
Der Hof in Fabeln
Der Leipziger Beylage sehe mit Verlangen u. Sehnsucht entgegen. Ich

9
gieng eben mit dem weitläuftigen Anschlage um mir zum Neuen Jahr von

10
Ew. Hochwolgeb. ein Andenken an Dero sämtl. Schriften auszubitten, von

11
denen ich noch nichts, nicht einmal den
Daniel
besize, den ich mir fest

12
vorgenommen hatte zu behalten, weil ich für das praktische Fach meiner

13
kleinen Bibliothek eine Vorneigung hege, u. unter allen biblischen Stüken

14
weder Klopfstok noch Geßner den Gesezen der Wahrscheinlichkeit oder der

15
historischen Grundlage durch die Erdichtung ein Genüge gethan, geschweige der

16
andern etc. Den Herrn u. Diener, die Beherzigungen lagen außer

17
meinem philosophischen Kreise, indem ich mich damals, auch aus

18
Oeconomie
meiner Zeit
, so strenge als möglich einschränken mußte um

19
durch dergleichen Zerstreuungen nicht in ein Feld von Wißenschaften wieder

20
verloket zu werden, das ich als verloren aufgegeben hatte. Daß ich einmal

21
eine Art von Beruff
gehabt
den just herrschenden französischen Geschmak in

22
der Staatskunst des Handels zu kennen, fieng ich vor 8. Jahren mit einer

23
unglükl. Übersezung
des
Dangeuil
zu beweisen an, die voller Fehler u.

24
Nachläßigkeit ist, die ich durch eine
Beylage
vergrößerte, zu der mir

25
jener Freund einigen Stoff gab, seiner Familie zum Beßten, zu deren

26
Angelegenheiten er mich brauchen wollte, aber
umsonst
– – Da dieser

27
gemachte Anfang mir vielleicht wieder einmal zu statten kommen kann, so

28
würde ich außer dem Andenken Ihrer großmüthigen Freundschaft vielleicht

29
einen treuen Anweiser zu
Diensterfahrungen
bey der Erfüllung

30
meiner Bitte erhalten, die ich Ihrer Bequemlichkeit u. den Umständen der

31
Zeit überlaße. Den
Titel von denjenigen
Arbeiten, wovon Ew.

32
Hochwolgeb. vielleicht selbst kein Exemplar aufbringen oder entbehren

33
könnten, bäte mir wenigstens aus; wie ich dagegen bey
anonym
en Stüken

34
die erforderliche Verschwiegenheit u. Vorsicht verspreche. – Dieser

35
Gelegenheit bediene mich zugleich, meinen Verdacht über die gegenwärtige Methode

36
des politischen
Studii
merken zu lassen, um durch dieses Fragment meines

37
Glaubensbekenntnißes wenigstens die Bitterkeit meines Geschmakes

S. XXIX
zu erklären. Der eine von den 2. Freunden ist mein doppelter Lehrmeister

2
gewesen, bey seinem Aufenthalt auf hiesiger Akademie, in den

3
Anfangsgründen des Wizes u. der schönen Wißenschaften, u. hierauf bey seiner

4
Zurükkunft aus Göttingen u. Paris; berauscht von patriotischen u.

5
gesellschaftlichen Lehrsätzen u. Aussichten war sein erstes
Geschäfte
mich in

6
Curland aufzusuchen, u. ich fand den Becher, den er mir zutrank, sehr angenehm,

7
daß ich ihm ohne sonderlichen Nothzwang Bescheid that. Sehr wichtige

8
Revolutio
nen in dieser Familie u. in meinem Gemüthe machten mich von

9
diesem Zaubertrunk nüchtern. Eine
natürliche
Unschiklichkeit
zu

10
allem,
was mechanisch
ist, brachte mich zu einem andern
Extremo
pp

11
vi inertiæ
Beharrungsvermögen
Ich suchte also aus meiner
vi
inertiæ
eben den Vortheil für mich u. andre

12
zu ziehen, der den Bewegungskräften sonst zugeschrieben wird. – Der

13
Descartes Thiersystem
René Descartes
nimmt an, dass nur Menschen, nicht aber Tiere das Vermögen zu denken und zu fühlen besitzen, weshalb er Tiere als Maschinen begreift.
l’homme machine
La Mettrie,
L’homme machine
Übergang von
Descartes
Thiersystem zum
l’homme machine
war kein

14
Riesenschritt u. die Folge eben so leicht, daß der
Staat
eine
Maschine

15
Aßaph
Ps 73
wäre. Auch ein frommer Aßaph fand das Pflaster schlüpfrig, wenn er bey

16
der Liturgie u. Anatomie des größten Hofdienstes stehen blieb. Wenn man

17
ihm aber ins Heiligthum nachfolgt; so findt man in unsern Systemen nichts

18
mehr als das
Jahr
solcher Lehren, die kein nüze sind, u. solcher Projekte,

19
David
Ps 144
die falsch sind, die David in seinem 144. Psalm schon den Philosophen

20
seiner Zeit in Mund legt, u. das Publikum mit einem
Bravo!
Wol

21
dem Volk, dem es also gehet! darauf antworten läßt. Der gekrönte Hirt u.

22
Wahrheit, die im Verborgnen
Ps 51,6
Sänger, als ein Verehrer der Wahrheit, die im Verborgnen liegt u. als

23
Weisheit im blutigen Ehebruche
Hes 23,37
ein Schüler der heimlichen Weisheit im blutigen Ehebruche, sahe die

24
Unhinlänglichkeit aller moralischen u. natürlichen Mittel zum wahren Wohl

25
eines Volks beßer ein, daß keine Gärtnerzucht der Söhne, keine

26
architectonische Erziehung der Töchter, kein Flor des Handels, des
Akerbaues
, der

27
bürgerlichen Gerechtigkeit ein Himmelreich auf Erden einführen würde. Das

28
gläubige
Warten einer Stadt, die einen Grund hat
,

29
welcher
Baumeister u. SchöpferGott
ist, wird also den politischen

30
Kains […] Nimrods
1 Mo 4,8
u.
1 Mo 10,9
Versuchen eines
Kains
u. den Anfangsgründen eines
Nimrods
u.

31
ihrer Nachkommen entgegengesezt bleiben. In einem berümten

32
Dornbusch
2 Mo 3,2
Dornbusch, der nicht verbrennt, geschah die erste Offenbarung des
heiligsten

33
Erhaltung des Unkrauts bis zur Erndte
Mt 13,29f.
Namens, u. die Erhaltung des Unkrauts bis zur Erndte ist die beßte

34
Gräuel der lezten Zeiten
2 Tim 3,1
Theodicee des beßten Hausvaters. Im Gräuel der
lezten
Zeiten liegt zugleich

35
der Trost von der Verheißung seiner Zukunft u. unserer Erlösung, die sich

36
nahet, unsere Häupter aufzurichten – – Ohne mich über die

37
Zweydeutigkeit der Hypothesen, die zu Grundsäzen
aufgenohmen worden
,

S. XXX
aufzuhalten u. über den künstlichen Gebrauch dieser zweyschneidigen Werkzeuge,

2
der schweren Kunst die
Symtoms
, u. der noch schwerern Kunst die

3
Crises
eines Staatskörpers zu beurtheilen, hat mich öfters der Zweifel

4
welsche Practik
eigentl. Bezeichnung für eine Rechenmethode nach Proportionen. Vmtl. im Volksmund aber aufgrund des ähnlichen Klangs mit ‚falsch‘ für alles benutzt, was für eine Fälschung/Täuschung gehalten wurde (bspw. für den Münzguss unter dem Nominalwert).
angefochten: ob nicht die verhaßte
welsche Practik
eines treuen

5
Weltweisen
vll.
Voltaire
Geschichtschreibers u. tiefsinnigen Weltweisen eben so würdig sey, als die

6
Theorie des Anti-
Friedrich II.,
Antimachiavell
Theorie des Anti- eines
Neulings
würdig ist? Die Probe seine eigene

7
Herculs Arbeit
In der griechischen Mythologie reinigt Herakles den Stall des Augias mit 3000 Rindern in einem Tag.
Hütte rein zu erhalten läßt uns weder Zeit noch Kräfte übrig an Herculs

8
Heiligung einer Mördergrube
Mt 21,13
Arbeit beym Stall eines Augeas – oder an die Heiligung einer

9
Mördergrube im Bethaus – zu denken – – –

10
Ew. Hochwolgeb. vergeben mir diesen rohen Ausbruch meiner

11
Gewißensfreyheit, weil ich über einige Punkte mir Nachsicht, über andre dero

12
aufrichtige Sinnesmeynung versprechen kann.

13
Ich habe noch ein anders Anliegen, womit ich schließen will. Daß

14
Hr.
Diac.
Trescho meinem Verleger das schriftliche Versprechen gethan,

15
ihn bey Ew. Hochwolgeb. bestens zu
empfelen
: so werden Sie mir erlauben

16
denenselben das dringende Gesuch zu entdeken, womit er sich wünschte

17
künftig bey Gelegenheit von dero Arbeiten für seinen Verlag zu erhalten,

18
weil ihm dieß
bey seinem starken Umsatz mit den dortigen

19
Buchführern zu großer Erleichterung seines jungen

20
Handels gereichen
würde. In wie weit Ew. Hochwolgeb. im Stande

21
oder geneigt wären hierinn zu willfahren, überlaße ich denenselben, da ich

22
nicht gerne Ihre Geflißenheit mißbrauchen oder übertreiben möchte. Ich

23
würde auf allen Fall mit Sorge tragen, daß den Bedingungen Ihrer Seits

24
so genau als möglich Genüge geschehe. – – Da er ohnedem willens
ist

25
eine Art von Monats- oder Wochenschrift hier auszugeben, deren

26
Möglichkeit in der Ausführung ich gar nicht absehen kann, zu deren er aber schon

27
die Willfährigkeit vieler auswärtigen Gelehrten (seiner Aussage nach) zum

28
Beytrag sich erworben: so wünschte ich wenigstens, wenn Ew. Hochwolgeb.

29
einige kleine verlorne
Aufsäze
als ein Allmosen uns zuwürfen. Sollte nichts

30
daraus werden, so stünde für sicheres
Depositum
u.
Remissum.

31
Sollte im gegenwärtigen Antrage etwas mißfälliges seyn, so hat

32
Freundschaft ein gleiches Recht abzuschlagen als anzuhalten.

33
Ich empfele Sie göttl. Obhut, u. mich Dero geneigten Erinnerung,

34
der ich mit der aufrichtigsten Ehrerbietung ersterbe

35
Ew. Hochwolgebornen

36
Gehorsamst ergebenster
Hamann.

37
nicht
Secr.
sondern
Clerc extraordinaire de
p.


S. XXXI
Fin
.
den 14.
Nov.
Entschuldigen Sie meine gegenwärtige Unvermögenheit zu

2
denken u. zu schreiben u. nehmen meinen guten Willen zu antworten für die That

3
an.

Provenienz

Eine Abschrift des Briefes von Johann Caspar Lavater, aufbewahrt in Zürich, Zentralbibliothek, Signatur FA Lav. Ms. 510.272. Original verschollen. Letzter Aufbewahrungsort unbekannt.

Bisherige Drucke

Walther Ziesemer: Unbekannte Hamannbriefe. In: Altpreußische Forschungen 18 (1941), 299–302.

ZH III XXVI–XXXI, Nr. 255a.

Digitalisat