294
314/31
Liebster!

32
vorigen
nicht ermittelt
Ich habe recht sehr nöthig, Sie um Verzeihung meines vorigen weggeeilten

33
HErn. Rekt Lindner
Johann Gotthelf Lindner
Briefes zu bitten, den ich voll
Zerstreung
bei HErn.
Rekt
Lindner geschrieben.

34
scribae
Schreibers
Ich schreibe an Sie sehr gerne, so ungern ich sonst das Amt eines
scribae

35
scriptoris
Abschreibers
übernehme, da selbst das Amt eines
scriptoris
mir Mühe, u. Ueberdruß

S. 315
macht. Daher kommts, daß ich meine Abhandlung, die Ihnen so sehr am

2
Herzen liegt, mit vieler langsamen Eile umschmelzen werde; daher
kommts,

3
Evensbiß
Eva, die in den Apfel beißt
daß ich einen Evensbiß in die Moral zu
erst
vor thun will, dazu ich mir den

4
Titius
Thourneyser,
Lettre d’un philosophe
, übersetzt von Johann Daniel Tietz (1729–1796), Prof. der Mathematik und Physik in Wittenberg
Titius erbeten habe. Ich bin über ihn noch in Ihrer Schuld, die ich einesteils

5
durch Dank abtrage, andern Teils noch nicht weiß. Ich habe bei aller meiner

6
überhäuften Arbeit, einen gewissen schleichenden
Müßiggang
nothig,
den ich

7
mir auch auf eine etwas mühsame Art nehme. Die Veränderung meiner

8
Sphäre hat in der That noch nicht meine hiesige Lage bestimmt, u.
in der

9
That
wirkl. kann Riga, einen Fremden, einen Litteratus (nach dem hiesigen

10
Φιλοσοφουμενος
Philosophierenden
Stil) einen Schulmann,
u.
Φιλοσοφουμενος
wirklich
hypochondrisch machen,

11
wozu denn auch freilich die hiesige Speise
u.
Lebensart ein Quentchen beiträgt,

12
so daß ich Hinzens Hypochondrie nicht mehr so paradox finde, als ich sie in

13
Kön.
Königsberg
Kön. fand. Indessen bereue ich doch diesen Schritt so wenig, daß ich vielmehr

14
wirklich über mein bisheriges Schicksal
erstaune
– Jetzt kome ich aus dem

15
Concert; ein todtes Vergnügen vor mich, das doch unter meinen übrigen eine

16
sehr vorzügl. Stelle hat. Aus Königsb. wäre ich ohne Ihre Briefe, in einer

17
verdrießlichen
Wit
Verwittwung
. Ich habe schon 5. Briefe an den geschrieben, der

18
Agesidamus
Hagesidamos, Sieger im Faustkampf der Knaben (vgl.
Pindar
, Olympische Ode 11); gemeint ist
Carl Gottlob Fischer
mein Agesidamus war, u. da ich keine Antwort bekomme, da ich selbst auf

19
die Inlagen die ich teils an meine Mutter 3mal,
teils 2mal
an meinen andern

20
Hrn. Haberkant
Johann Jakob Haberkant
Freund, Hrn. Haberkant geschrieben, keine Antwort
war
erhalte so laufe

21
redde mihi litteras!
dt. „gib mir meine Briefe wieder!“ Allusion des Ausrufs von Kaiser Augustus nach der Varus-Schlacht im Teutoburger Wald (9. n. Chr.): „Quinctili Vare, legiones redde!“
ich beinahe wie August, gegen die Wand:
redde
mihi litteras
! Da ich richtig

22
addreßirt
, da es an der hiesigen Post nicht liegt, da er zu
s
antworten hat,

23
so werde ich in ihm ganz irre, u. wünschte wenigstens durch einen Dritten

24
Nachricht von ihm. Sollte
n
Sie Ihn
m
aufspüren
Er Ihnen aufstoßen:

25
so sagen Sie ihm doch meine Meinung, u. mir die seinige.
s
Sie
thun nicht blos

26
meiner Neugierde, meinem Hochmuth, sondern auch wirklich der

27
Nothwendigkeit einen Dienst. – Und nun zum gelehrten Fach! – den Winkelmann

28
habe ich durchgejagt u. durchgekrochen: Man kan ihn lesen als den Künstler,

29
den Geschichtschreiber u. den Altertumskenner; bei dem ersten bin ich in

30
Maulaffischer ανεργος
Eckensteher und Müßiggänger
Absicht seiner Statuen ein Maulaffischer
ανεργος
; im dritten habe ich ihn

31
überhüpft; am 2ten aber habe gnug zu lernen, u. den Kopf zu schütteln gehabt. –

32
Meinen Dithyramb sehen sie unrecht an: er ist, das meiste gerechnet, keine

33
Apostille
Abschluss von
Herder,
Dithyrambische Rhapsodie
, S. 37–39
Critik; die Apostille ausgenommen. Warum wollen Sie mich zu der Arbeit

34
Goldfinders
Anspielung auf die Brutalität der Goldsucher
des Henkers verdammen, die die Engelländer den
Goldfinders
zuschreiben;

35
wenn ich ein Türkischer Kamelstreiber seyn kann, der vor seinem heil.

36
Paßgänger, der den Koran trägt, heilige
Apfel
auflieset. Betrachtet Sie der

37
Nachrichter ... Göttinger
Vgl.
Hamann,
Mitauisches Intermezzo
, worin Rezensionen der
Kreuzzüge
abgedruckt und kommentiert sind aus:
Hamburgische Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit
,
Briefe die neueste Litteratur betreffend
und
Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen
.
Nachrichter
über
unter
, der Berliner
über
, der Göttinger
neben
der Kritik; warum

S. 316
nehmen Sie nicht gerne einen Platz
außer
der Kritik, die überdem nicht Ihre

2
Rhapsodie, sondern Ihre Autor Grundsätze an die Berliner in der

3
HErn Profeßor Wilkes Nordth Briton
The North Briton
Verteidigung prüfen
sollte
müste – Weil Sie mit HErn
Profeßor
Wilkes
Nor
d
th

4
Essai on Woman
Wilkes,
An essay on woman
Briton
im
MS.
u.
Essai on Woman
gedruckt erhalten: so habe mir das

5
Abschreiben
zu
unutz gehalten. Die Edda wird Ihnen gefallen: ob ich gleich

6
Mallet nicht als einen Geschichtschreiber noch weniger in seinen Anmerkungen

7
als einen Schriftgelehrten dieser heilgen Philosophie betrachten kann: so ist

8
er immer mehr als ein Franzose. Als Dichter würd ich mehr u. nicht

9
abgekürzte Probstücke erwarten; als Weltweiser wünschte ich einst Muße
,
die

10
der Hebr., der Χsten
der Hebräer, der Christen
zu haben, diese Götterlehre mit der
Mytholog.
d Griechen, der Hebr., der
Χ
sten,

11
u. der vielen Heiden in den Reisebeschreibungen vergleichen zu können; um

12
einst hieraus vor mich eine Geschichte der Religionen samlen zu können wozu

13
ich im ersten Feuer worin ich die Edda laß, einen Plan entworfen. Indeß ist

14
Mallet in Absicht auf Dännmark immer einem Schwedischen Dalin an die

15
Seite zu setzen; möchten wir nur sonst viele solche Geschichtschreiber
haben

16
Pausanias
Pausanias
Ich
glaube,
Sie haben Pausanias nicht in dem Gesichtspunkt gelesen, worin

17
ich ihn würde durchlaufen haben; wo dies ist – u. Ihr voriger Auszug macht

18
mich sehr aufmerksam – so bäte ich mir einiges aus, einige Speise, die ich

19
Mitau
heute Jelgava, Lettland [56° 39′ N, 23° 43′ O] (40 km südwestlich von Riga), wo Kanter einen Buchhandel betrieb.
verdauen kann. – Ich bin zu sehr von Mitau entfernt; u. die hiesige Quelle

20
meiner Bücher ist etwas zu
sehr
unaufmerksam auf mich; um mir hierin

21
zu satisfaciren. Die hiesige Bibliothek habe blos im Katalog durchlaufen;

22
u. die Arbeit wird lange mechanisch seyn
müßen
, um mich einst zu einer

23
ruhigen Nutzung
durchzubrechen:
Jetzt muß ich mir Muth zu Verfertigung

24
eines Inventars der Juristen machen – Unter den Philologen habe ich mir

25
einige schöne Ausgaben, u. Commentars der Alten gemerkt, u. der Lykophron

26
des Tsetzes soll der Pudding seyn, an dem ich meinen Magen zuerst probiren

27
Winkelmansche Urteil
Winckelmann,
Geschichte der Kunst des Altertums
, S.359: „Callimachus und Nicander aus der sogenannten Plejas, oder dem Siebengestirn der Dichter, an dem Hofe des Prolemäus Philadelphus, suchten mehr Gelehrte, als Dichter, zu erscheinen, und sich mit alten und fremden Worten und Redensarten zu zeigen, und sonderlich Lycophron, einer unter diesen sieben, wollte lieber besessen, als begeistert scheinen, und mit Schweiß und Pein verstanden werden, als gefallen; er scheint der erste unter den Griechen zu seyn, welcher anfieng, mit Anagrammen zu spielen.“
will. Sehen Sie doch von ihm das Winkelmansche Urteil in s. 2ten Theil

28
Ptolom. Philadelphus
Ptolemaios Philadelphos (gest. 246 v. Chr.), König von Ägypten
unter Ptolom. Philadelphus nach. – Was meinen Sie von einem

29
muthwilligen Knaben, der um die
Candidatur aus
leichtsinnig angehalten. Nächstens

30
S. Rev. Minist. feierl. Reichsstädtisch rigorose exam.
Sancto Reverendo Ministerio ... examiniert
werde von
einem
M
S. Rev. Minist.
feierl. Reichsstädtisch
rigorose exam.

31
Kragen u. Reverende
Halskrause als Zeichen der Ordination
werden, ehe ich Kragen u. Reverende bekomme. Indeß traue ichs meiner Stimme

32
nicht zu, eine Posaune im heil. Peter oder Dom zu seyn; und meinem

33
4ten Bitte
Unser tägliches Brot gib uns heute; Vaterunser
eigensinnigen
Gedächtn.,
um der 4ten Bitte willen eine
lettsche
Zunge mir

34
12000 Verse der Druiden
Druiden konnten erst nach einer langen Prüfungszeit ihrem Beruf nachgehen.
einzupropfen: wenigstens wäre sie mehr, als jene 12000 Verse der Druiden,

35
dadurch sie Priester wurden. Fahren Sie fort, mein Einziger, Allerliebster!

36
in Ihrem mir recht sehr
gelehr
nutzbaren Journal, das mich aufweckt u.

37
in Curland
Hamann spielt mit dem Gedanken, Hofmeister in Kurland zu werden
unterhält; so lange bis ich Sie sehe. Wie aber in Curland? Ich weiß nicht,

S. 317
was ich daran paradoxes finden, daß ein Hamann nach Kurland gehen soll,

2
mit Aussichten, die vorne so eingeschränkt sind, als die Rücksichten bedrängt

3
seyn mögen. Gott! mir wird immer für mich bange, wenn ich Ihre Geschichte

4
betrachte, u. da mich das Schicksal
wirft
: so
ist
läuft mir immer der

5
Schweis über; ich könne mir einst den Kopf zerschlagen. In Riga scheints,

6
werde ich, wohl nie meinen Rauch aufgehen
laßen
; indessen wenn ich schon

7
lieber obscur als cassa
lieber mit verdeckten Karten als mit offener Hand
pass
en muß: so werde ich doch immer lieber
obscur
als
cassa
spielen wie Sie

8
es vielleicht thun. Doch vielleicht hat Ihr Freund die Zauberkraft, einen

9
Schatten vestzumachen, u. ich wünsche dies immer sehr, so heftig ich mir auch

10
Ihre Umarmung wünschte. –
Unterdeßen
laßet
uns, wir mögen schlafen,

11
oder wachen, Brüder seyn, u. uns trösten u. erbauen u. vestmachen, so lange

12
wir wallen. Amen.

13
Herder


14
Beilage:

15
Ich lese die Edda, u. voll Entzücken muß ich ihnen u. mir einige

16
Apophtegmen aus dem Havamaal des Odins
vgl.
Mallet,
Geschichte von Dänemark
. Die Hávamál ist eine Sammlung von 164 Strophen der Lieder-Edda; Odin erteilt darin den Menschen Rat, wie sie ein gutes Leben führen können.
Apophtegmen aus dem Havamaal des Odins abschreiben.

17
Dem Gaste, der mit kalten Knien zu euch komt, gebt Feuer!“ Ein

18
Reisender hat Klugheit
nothig
. Zu Hause kann man thun, was man will, wer

19
aber nichts versteht, wird sich verächtl. Blicke zuziehen.“ An einem

20
unbekannten Ort gilt Klugheit mehr als Schätze: sie ists, die den Armen

21
ernährt.“ Den Söhnen dieser Zeit ist nichts unnützer, als allzuviel Bier

22
trinken; je mehr ein Mensch trinkt, desto mehr verliert er den Verstand.

23
Der Vogel der Vergessenheit singt denen vor, die sich betrinken, u. stiehlet

24
ihnen die Seele.“ Der Unsinnige wache jede Nacht, er überdenke alles, aber

25
er ist beim Ausbruch des Tages müde, nicht
klüger,
als den Abend vorher.“

26
Reichthümer verschwinden, wie ein Blick der Augen, sie sind die

27
unbeständigsten unter den Freunden. Heerden kommen um, Angehörige sterben,

28
Freunde sind nicht mehr unsterbl, ihr selbst werdet sterben, aber, ich kenne

29
eine einzige Sache die nicht stirbt – das Urteil, das man über die Todten

30
fällt
„Lobt die Schönh. des Tages, wenn er zu Ende, ein Weib, wenn ihr

31
sie erkannt,
w
einen
Degen, wenn ihr ihn versucht, ein Mädchen, wenn sie

32
verheirathet
ist, ein Eis, wenn ihr drüber seyd, Bier, wenn ihrs getrunken

33
habt.“ Das Feuer verjagt Krankheiten, der Eichbaum die Harnstrenge,

34
Stroh beschwört die Bezauberungen, die Runen heben den Fluch auf, die

35
Erde trinkt die Ueberströmungen u. der Tod löscht den Haß aus. –


36
Adresse mit rotem Siegellack:

37
à Monsieur / Monsieur Hamann / Homme de lettres / à
Coenigsberg
.

Provenienz

Krakau, Jagiellonenbibliothek, Slg. Autographa der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin (ehemalige Berliner Signatur: Acc. ms. 1886. 53, Nr. 1[b]).

Bisherige Drucke

Herders Briefe an Joh. Georg Hamann. Im Originaltext hg. von Otto Hoffmann. Berlin 1889, 8–12.

ZH II 314–317, Nr. 294.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
314/33
Rekt
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Rekt.
314/33
Zerstreung
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Zerstreuung
315/2
kommts,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
kommts
315/6
nothig,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
nöthig,
315/6
Müßiggang
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Müssiggang
315/10
u.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
u
315/11
u.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
u
315/14
erstaune
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
erstaune.
315/17
Wit
Verwittwung
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Verwittwung
315/19
teils 2mal
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
teils mal
315/21
mihi litteras
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
mi hilitteras

So auch Druckbogen [1940], ebenso Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. [1988]).
315/22
addreßirt
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
addressirt
315/25
s
Sie
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Sie
315/34
zuschreiben;
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
zuschreiben:
315/36
Apfel
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Äpfel
315/37
über
unter
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
unter
316/3
Profeßor
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Professor
316/9
,
die
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
die
316/10
Mytholog.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Mythol.
316/15
haben
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
haben.
316/16
glaube,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
glaube
316/22
müßen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
müssen
316/23
durchzubrechen:
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
durchzubrechen.
316/29
Candidatur aus
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Candidatur
316/30
einem
M
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
einem
316/33
lettsche
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Lettische
316/33
Gedächtn.,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Gedächtn;
317/6
laßen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
lassen
317/10
laßet
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
lasset
317/10
Unterdeßen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Unterdessen
317/18
nothig
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
nöthig
317/25
klüger,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
klüger
317/30
fällt
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
fällt.
317/31
w
einen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
einen
317/32
verheirathet
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
verheiratet
317/37
Coenigsberg
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Coenigsberg