455
202/15
Kgsb. den 14
Aug
75.

16
Herzlich geliebter Freund,

17
Ihr letztes vom 29
Jul.
erhielt den 9
hui
und bestellte sogl. Einl. nach

18
Morungen, konnte aber nicht sogl. antworten und gestern bin auch den gantzen

19
Tag besetzt gewesen. –

20
Hartknoch hat mir den 1
Sont.
n.
Trin.
einen Brief
von Ihnen nebst

21
den
Büchern
richtig eingehändigt; und als er den 21
Jun.
bereits kam, von

22
mir Abschied zu nehmen mit seinem Sohn, brachte er mir noch einen
früheren

23
Brief
von Ihnen, als der erste war. Ich habe also 2 Briefe und alles richtig

24
erhalten. Ungeachtet ich meinen Brief, bester Herder! letzt in der grösten

25
Gemüthsstörung geschrieben habe: so glaube ich doch ausdrückl. angeführt zu

26
haben, daß ich jene
beyde
Briefe nicht Zeit hätte aufzusuchen – Das
Danken

27
für Ihre neueste Arbeiten, könnte
wol
ausgeblieben
seyn, weil es sich von

28
selbst u. gleichsam
in margine
versteht; aber daß ich nicht sollte daran gedacht

29
haben, kann ich mir auch kaum vorstellen. Wiewol alles unter jenen

30
Umständen mögl. ist, und ich befinde mich noch immer in sehr ähnl. Lage. Den
Dank

31
also beyseite gesetzt, können Sie weder auf mein
Urtheil
noch auf meinen

32
Beyfall
Ansprüche machen. Meine
vorzügl. Zufriedenheit
aber und die

33
Geschichte
meiner Seele habe ich Ihnen so oft in Gedanken vielleicht

S. 203
mitgetheilt und auch niemanden hier ein Geheimnis daraus gemacht, daß, wenn

2
es wirklich nicht geschehen, ich alles mit 2 Worten berühren will.

3
Ich war über die
geänderte
Stellen in den hieroph. Briefen so verdrüßlich

4
und außer Stand gesetzt meinen eigenen Sinn zu errathen, daß ich meine

5
eigene Autorschaft verfluchte und alle ehrl. Leute bedauerte, die mit einem

6
Gefühl von Ehrlichkeit sich damit abgäben und ihre Gemüthsruhe einem

7
solchen Hirngespinste aufopferten. Mitten in diesem Gedräng nahm ich zu Ihren

8
Erläuterungen
Zuflucht, fand die Einleit. sehr
interessant,
als ich aber

9
weiter kam, wurde mir vor meinem eignen Schatten Angst und meine Unruhe

10
über uns beyde nahm so zu, daß ich kein Buch den Tag anzusehen im Stande

11
war – Alles Schreiben schien mir ein Blendwerk zu seyn, und daß man

12
sich von der Lebhaftigkeit gewißer Träume so hinreißen ließe, daß man gl.

13
einem
Mondsüchtigen
– Ich bot alle meine kleine Philosophie auf über diese

14
Phaenomene
nachzudenken und selbige zu erklären – Alles lief aber auf ein

15
Achselzucken heraus und zuletzt auf ein beruhigendes
Homo sum

16
Den andern Tag gieng das so fort, ohne daß ich was lesen noch ansehen

17
mochte, bis ich mich
ermannte
die beyden kleinen Briefe der Brüder Jesu

18
vorzunehmen, deren Titel ich gar nicht einmal verstund, und worüber ich

19
einen Wink von Ihnen auch falsch verstanden hatte. Ich griff nach dem Buch

20
mit einer sehr feyerlichen Behutsamkeit, und in der Absicht um
Experimente

21
zu machen über den Gang einer Autor Seele – und mit dieser Arbeit war ich

22
so zufrieden, daß ich mich recht über den
Autor
und
Freund
erfreute – und

23
es mir vor behielte die
Erläuterungen
von vorn wieder anzufangen, wollte

24
aber den ersten Eindruck erst ein wenig verrauchen laßen. Vierzehn Tage

25
nachher war es mir erst mögl. zu dieser Muße und Arbeit zu kommen, und ich

26
glaube den
Geist
dieser Schrift so gut als jemand
genoßen
zu haben, daß

27
ich also mit diesen letzten Arbeiten zufriedner als mit irgend einer älteren bin

28
und mehr Antheil als an allen andern nehme. Ich schränke mich aber blos

29
auf das
Gantze
und
Allgemeine
ein – Denn zum
Einzelnen
bin zu schwach

30
in mehr als einem Verstande.

31
In unsern
Zeitungen
sind Sie von Trescho geneckt worden. Er ist der

32
einzige gewesen, an den
ich
im
May
wegen des
Assmus
geschrieben, den

33
er auch im Vorbeygehen geneckt. Den 4
h.
hat er mir geantwortet, daß er

34
nichts hätte, und desto beßer für uns beyde, weil ich auch für ihn nichts mehr

35
habe, und mein Dutzend all ist.

36
Von neuen Sachen habe noch nichts gelesen als die A. D.
Bibliothek
, in

37
der Ihnen wol nichts eigentl. zur Last fällt als die falsche
Citation
aus den

S. 204
Proleg.
des
Jablonsky
.
Laßen Sie sich doch dies ein für allemal eine

2
Warnung seyn, nichts auf
Credit
zu
citi
ren. Ich glaube keinem
fremden

3
Zeugniße
, oder brauch es niemals, ohn es vorher berichtigt zu haben. Nach der in

4
Walchs Bibliothek
bin auch sehr neugierig, kann aber nicht dazu kommen.

5
Nicolai
Dank
für seine Ankündigung des
Zacchaei,
die voller

6
Misverständniße ist, und mich nicht anficht. Aber die beyden Gesellen
Hd. Dh.
denke mit

7
einem
Fell
abzufertigen, und diese Arbeit benimmt mir den Kopf seit mehr

8
denn 14 Tagen ohne daß ich aus der Stelle kommen kann.

9
Ich habe gestern mit genauer Noth Lavaters phys. Fragmente bey mir zu

10
Hause durchzusehen bekommen, und nicht ohne Augen- und Seelenweide. Es

11
ist mir nicht mögl. gewesen Sie
aufzufinden
. Wegen ihrer
Caroline
bin

12
auch nicht sicher, ohngeachtet mir Kanter Ihre Silhouette gewiesen. Wer mag

13
H – n p.
196.
seyn?
Können
Sie mir nicht zu
p.
232.
233.
und 258 einen

14
Aufschluß
geben. Wo ist
Göthe
?

15
Meine
Vision
wegen des Ohrs und der alberne Verdacht, daß es eine

16
Erfindung hiesiges Orts
wäre, was mir wie ein Pfeil ins Gehirn und Hertz

17
geschoßen war und wozu ich durch einen Zusammenfluß kleiner Umstände

18
verleitet wurde, die sich verschworen hatten mich in den Irrthum zu stürtzen,

19
hat mir einige grausame Tage gemacht und mich in viel Verlegenheit gesetzt.

20
So bald ich nur überführt wurde, daß es nicht von hier kam und K. nicht die

21
Unverschämtheit hatte der
Unterhändler
eines so tummen Streichs zu seyn,

22
war ich beruhigt und es focht mich nichts mehr an. Dem
Apollonio
hat es ein

23
rasendes u blutiges
Billet
gekostet, worinn mein alter Gevatter
Kanter
und

24
H – l
auch gemishandelt waren, und beyde, auch vielleicht alle 3 sind gantz

25
entfernt worden. Freunde, die sich auf Zeichnung verstehen, wollen mich nicht

26
erkennen, ich soll unten viel zu stark seyn. Auch mein Ohr sich wirkl.

27
unterscheiden und eine falsche Zeichnung leicht veranlaßen können. Vergeben Sie,

28
daß ich Sie mit der Grille auch beunruhigt habe. Sie hängt mit so viel kleinen

29
Umständen zusammen – und ist für mich ein feuriger Pfeil gewesen, in der

30
eintzigen Rücksicht, daß ich meine
einzigen
und
vertrautesten
Freunde eines

31
solchen
niedrigen
Zuges fähig hielt. Lavater und das gantze
Publicum
mag

32
mit mir machen was ihnen gelüstet; ich kenne beyde nicht und bekümmere

33
mich nicht weiter darum. Mein einziges Tichten und Trachten und die gantze

34
Bosheit meines Herzens hat gegenwärtig kein ander Ziel als den Vetter

35
Nabal zu B. B. und seine beyde Gesellen
Hd. Dh.
Acht Tage ist ihre

36
Recension
mein Frühstück gewesen und ich kann nicht zum
Vomi
ren kommen um

37
mich der Galle zu entschütten.

S. 205
Liebster, bester Herder! Ihr letzter Brief vom 29
Jul.
ist mir Balsam auf

2
mein Haupt und für meinen grauen Bart gewesen. In 14 Tagen werde Ihren

3
u. meinen Geburtstag mit
Paentzel,
Krause
und Kreutzfeld, die jetzt mein

4
Kleeblatt sind
feyern
. Letzter ist mein
Schüler
im Engl. und hat eine große

5
Anlage ist Ihr
intimus,
mit dem ich noch immer
willens
bin Ihre Urkunde

6
zu studieren. Er hat mir Licht über Ihre Schreibart aufgesteckt, dafür ich ihm

7
erkenntlich bin. Beyl. sind ein paar Dainos, die ich nicht zu beurtheilen im stande

8
bin, ob sie Ihres Ansehens oder Aufnahme werth seyn werden.

9
Krause
ist des Kr. Buchholtzes Schwestersohn, ein
groß
Genie,
philosophisch

10
und mathematisches. Er brütet über Proben. Seine Ähnlichkeit in der

11
Physiognomie mit dem vorigen Beichtvater macht mir bisweilen Angst – aber

12
er ist ein
großes
Genie,
und der erste Lehrmeister meines Buben und seines

13
Vaters, der im
Ariost
schwärmt mit ihm.

14
Paentzel
verbindet mit einem außerordentl. fähigen und brennenden Kopf,

15
ein gutes, edles, unschuldiges Hertz. Gantz Königsberg hat sich für diesen

16
armen unglückl. Menschen
interessirt
auf eine unglaublich freygebige Art

17
und das
Glück
scheint sich für
ihn verschworen zu
haben. Er weiß vor

18
Freuden nicht, was er anfangen soll. Er geht außer
Uniform
bereits. Der

19
Gouverneur
hat die ihm unnatürl. Menschenliebe, ihm seinen Abschied so leicht als

20
mögl. zu machen und heute fängt er
Collegia priuatissima
über die

21
Geschichte an. Ich freue mich wie ein Kind über ihn und meine Vaterstadt. Einem

22
intimo
aus Klotzens Schule müßen Sie einige Erbfehler vergeben aber ich

23
bin nicht im stande
unwißende übermüthige
Leute zu lieben und er ist der

24
Antipod von
beyden
.

25
D.
Arnold
ist todt.
D. Reccard
soll gegen seinen
Oncle Starck,
meinen

26
Beichtvater, sehr laut seyn in seinen Vorlesungen, ja gar bis auf die Kantzel,

27
wenn es wahr ist, neml. das letztere.

28
Danischmende scheint zu versprechen, daß
W.
in seiner Philosophie ein wenig

29
weiter kommt. Göthens Arlequinspeitsche ist nicht gantz nach meinem

30
Geschmack; wiewol sie vielleicht das
beste
Mittel bey gegenwärtiger
Barbarey

31
zu seyn scheint.

32
Gott seegne alle Ihre mannigfaltige Arbeiten – Ihre Ausarbeitung der

33
Preißschrift – Ihre Fortsetzung der Urkunde – und alles was Sie Uns noch

34
in Ihren
Erläuterungen
hoffen laßen, und laßen Sie den
Geist
immer

35
milder
und vor allem markicher werden. Nehmen Sie zu und wachsen,

36
unterdeßen ich abnehme und schwinde. Ich arbeite auch, aber nach kleinen Planen

37
und andern Verhältnißen, auch vielleicht noch im ungleichen Drucke, und mit

S. 206
mehr Widerstand.
Basedows
Philantropinum ist immer eine sehr

2
merkwürdige Erscheinung, sein lächerl.
Programma
an den Cosmopoliten hat mir

3
gestern viel Nachdenken und Antheil eingeflößt. Eine
Revolution
der Geister

4
und unserer Erde oder ihres kleinen Theils scheint in Gährung zu seyn.

5
Vom
Layenbruder
und
Claudius
schreiben Sie mir bald und alles was

6
Sie
können wißen
und
nicht wißen
.

7
Ich habe keine Ruhe für den langen Nickel und seine beyde Gesellen. Das

8
möge einen glühenden Ofen und keinen Badeofen von Eis für sie bedeuten.

9
Vergeben Sie mein Geschmier. Ich will es bey Umständen verbeßern. An

10
Claudius schreibe gar nicht mehr, so nöthig er auch einen
Fdors
Brief hat

11
vom Empfang der 50, davon ich nur 12 hier behalten und die übrige

12
Hartknochs Schwager
Toussaint
zur weitern
Expedition
anvertraut.

13
An Hartknoch selbst habe noch nicht geschrieben seit seiner Abreise. Er wartet

14
auf die Entbindung seiner Frau von u. ohne – Ihre Schwester in Morungen

15
hat mehr Geschmack und Ihrer Karoline Freundschaft für Ihre Schwester ist

16
auch mein Geschmack, und hierinn haben wir alle
einerley Sinn
und

17
Geschmack
. Aller übrige ist nicht der Rede werth. Ich habe über diese

18
Kleinigkeiten auch eine Menge Beobachtungen gemacht und einige zarte Fäden zielen

19
auch darauf in meinem Hochzeitliede. Kurtz, Hintz und andere Leute mehr sind

20
große Anbeter der gantzen Familie gewesen unterdeßen ich immer manche

21
Zweifel
über die Gründe der Verehrung gehabt. Unterdeßen was Gott

22
zusammenfügt, ist immer gut; und eine Ungleichheit der Charactere in 2 sehr

23
zuträgl. wo das 1 selbst eine
Ungleichheit
ist, die man unserm alten Freunde

24
nicht absprechen kann, auch ihm sehr zu gönnen ist; den
n
Enthusiasmus kann

25
sich nicht anders als durch
Extreme
erhalten
.

26
Ich umarme Sie, Caroline, Gottfriedchen, Johann Christoph von Grund

27
meiner Seelen und meines Herzens nebst den Meinigen. Wenn er doch zu

28
rechter Zeit ankäme, der dulle Brief!!!

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 132–133.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 152–159.

ZH III 202–206, Nr. 455.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
202/20
Sont.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Sonnt.
202/27
wol
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
wol
203/17
ermannte
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ermannte
,
203/26
Geist
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Geist
203/32
ich
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ich schon
204/1
Proleg.
des
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Proleg.
des
204/5
Dank
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Dank
204/13
196.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
196
204/13
233.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
233
204/13
Können
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
können
204/14
Aufschluß
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Aufschluß
205/3
Paentzel,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Paentzel
205/5
intimus,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
intimus
205/12
großes
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
großes
205/17
ihn verschworen zu
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ihn
verschworen
zu
205/30
beste
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
beste