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Königsberg
Dom II. p. Epiph.
oder

25
am Geburtstage der preussischen Krone, 1778.

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Innigstgeliebter Freund Lavater, Sie beten um Muth, nicht unter der Last

27
der Geschäfte zu sinken – und mir vergeht aller Muth, unter der Last
langer

28
Weile
. Gleichwohl dient selbige mir zum Schlüssel der heiligen Laune im

29
Predigerbuche; mehr Ahndung als Nachwehen.

30
Es ist ungefähr ein Jahr, daß ich den einzigen Dienst im Lande, den ich

31
mir gewünscht, und auf eine sehr eindrückliche und recht ausgesuchte Art,

32
erhalten; aber seitdem bin ich von dem Genusse meines Glücks mehr als

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jemals entfernt gewesen. So ging es den Juden, die Josua zur Ruhe brachte,

34
ohne zu wissen,
daß noch eine Ruhe vorhanden ist dem Volke Gottes
.

S. 4
Ich begreife selbst nicht, wie meine Gesundheit bey der sitzenden Lebensart,

2
bey
dem starken Appetit zu essen und zu trinken und zu schlafen, bestehen kann.

3
Bey aller dieser Unthätigkeit eines sehr sympathetischen Zuschauers thun mir

4
manchen Abend die Knochen so wehe, als irgend einem Ihrer olympischen

5
Kämpfer oder unserer circensischen Klopffechter, daß ich manchmal kaum die

6
Nachtwächter-Stunde abwarten kann, sondern mich mit vollem Halse in die

7
Federn werfe mit einem: O wie gut wird sich’s nach der Arbeit ruhn! wie

8
wohl wird’s thun!

9
Auch mir ist es bald wie ein Traum, bald ein Geheimniß oder
trait de

10
génie,
wodurch ich Ihnen, liebster Lavater,
so offenbar
geworden – und so

11
tief verborgen meinen
συμψύχοις
bleibe.

12
Ihre
Beylage
oder Denkmal hat mich
stätig
gemacht, weil der
Sporn

13
eben so stark als das
Gebiß
gewirkt;
Sporn
, Ihre gute Meynung oder

14
Ahndung von mir zu erfüllen;
Furcht
, als ein Sünder gerichtet zu werden,

15
gesetzt auch, daß die Wahrheit Gottes dadurch herrlicher würde zu seinem Preise.

16
Mir Ignoranten ist, nächst dem Prediger des alten Bundes, der
weiseste

17
Schriftsteller und dunkelste Prophet
, der Executor des neuen Testaments,

18
Pontius Pilatus. Ihm war
vox populi vox Dei,
ohne sich an die Träume

19
seiner Gemahlin zu kehren. Sein güldenes:
Quod scripsi, scripsi
ist das

20
Mysterium magnum
meiner epigrammatischen Autorschaft: was ich geschrieben

21
habe, das decke zu; was ich noch schreiben soll, regiere du!

22
Auf unsern lieben Moses Mephiboseth zu kommen, so ist sein Besuch die

23
einzige Freude dieses letzten Sommers für mich gewesen. Ich hatte mir ein

24
Gesetz gemacht, ihn alle Tage zu besuchen, und habe mehr als
eine
süße

25
Stunde mit ihm zugebracht; auch seine philosophischen Schriften bin ich

26
während seines Hierseyns durchgegangen, und mit erneuertem Vergnügen Ihren

27
beiderseitigen platonischen Briefwechsel. Es war meiner Neugierde daran

28
gelegen, seine Denkungsart gegen Sie auszuholen. Er lobte mir sehr, daß Sie

29
sich um ihn durch Ihre Vermittlung für seine Brüderschaft in Ihrer Heimat

30
verdient gemacht hätten, vermuthete aber, daß ein leichtsinniger
Einfall
,

31
womit er ein gewißes
Gerücht
beantwortet hätte, und der Ihnen vielleicht wieder

32
hinterbracht worden, Sie kaltsinnig gemacht haben möchte.

33
Da Ihnen meine Bestrafungen nicht unangenehm sind, liebster Lavater, so

34
hat der Erfolg gezeigt, daß ein Mann, der Mosen und die Propheten hatte,

35
Ihrem Bonnet überlegen seyn mußte; und es war daher ziemlich abzusehen,

36
daß Sie aus dem ganzen Handel
nicht so rein abkommen konnten
, als Ihr

37
Widersacher.

S. 5
Aber hievon ist nicht die Rede mehr; sondern nur davon, daß dieser Mann

2
wirklich ein Salz und Licht unter seinem Geschlecht ist, und all sein Verdienst

3
und Würdigkeit verloren haben würde, wenn er
unser einer
geworden wäre

4
wie Adam.

5
Ihr
Durst
ist heute abermals mein Frühstück gewesen.
Erfahrungen
,

6
wie
Einsichten
, sind neue
Prüfungen
, geben zu neuen
Zweifeln Anlaß
.

7
Unsere
Passibilität
steht immer im Verhältniß mit unserer
Actibilität

8
nach der neuesten Theorie über den Menschen –
Εμαθεν ἀφ’ ὧν
ἔμαθε
, Hebr.
V.

9
4
. gehört zur Nachfolge, die Kinder von Bastarden unterscheidet. Wenn dem

10
Satan daran gelegen ist, unsern Glauben zu sichten, wie den Weizen, so ist es

11
unseres Hohenpriesters Sache, für uns zu bitten, und durch unsere

12
Vollendung die
Brüder
zu stärken.

13
Der Unglaub’ ist nur nicht zufrieden,

14
Der Eigenwill’ sieht sauer aus,

15
Gott halte, wie er wolle, Haus –

16
„Bis zur Lästerung, Bedürfniß –
Etwas
, das alle
Zweifelwelten
aufwiegt.“

17
Iß dein Brod mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Muth, denn dein

18
Werk gefällt Gott. Brauche des Lebens mit deinem Weibe, das du lieb hast,

19
so lange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat,

20
so lange dein eitel Leben währt.

21
Alle Ihre
Zweifelwelten
sind eben so vergängliche Phänomene, wie

22
unser System von Himmel und Erde, alle leidige Copir- und Rechnungs-

23
Maschinen mit eingeschlossen.
Sein Wort
währt. Sie haben Recht, liebster

24
Lavater, es für ein
festes,
prophetisches
Wort zu bekennen, und thun wohl

25
daran, auf dieses scheinende Licht in der Dunkelheit zu achten, bis der Tag

26
anbreche. Eher ist an keine Gewißheit oder Autopsie zu denken; und Gewißheit

27
hebt den Glauben, wie Gesetz Gnade auf.

28
Sie
wissen
, was die
Erfahrung
, nach der Sie schmachten,
hindert
. Haben

29
Sie das Herz oder Vertrauen, mir mitzutheilen, was Sie wissen. Gesetzt, daß

30
diese Hindernisse wirkliche Berge währen, so halte ich diese Berge für den

31
rechten Ort
des wunderthätigen Glaubens, den jeder an sich selbst zu

32
erfahren im Stande ist. Denn das Himmelreich, gleich Ihrem
innern

33
Menschen
, verabscheut alles, was
Aufsehen
macht, was nicht
hilft
; ist nichts als

34
Geist und Wahrheit

35
Was Moses am brennenden Busche sah, der brannte ohne zu verbrennen,

36
das ist für uns das
Judenthum
und
Christenthum
, und der Stifter beider

37
ist nicht ein Gott der Todten, sondern der Lebendigen.

S. 6
Wenn Sie in Ihrem Glauben
gegründet
worden, warum sollte es Ihnen

2
leid thun,
geredet
oder
geschrieben
zu haben? Wird die Welt mich gleich

3
vernichten, will mich auch selbst Zion richten, – singen alle unsere Glaubensbrüder.

4
Ihnen von Grund meiner Seele zu sagen, ist mein ganzes Christenthum,

5
(ich mag zu den fetten oder magern Kühen Pharaons gehören) ein Geschmack

6
an
Zeichen
, und an den Elementen des Wassers, des Brods, des Weins.

7
Hier ist Fülle für Hunger und Durst – eine Fülle, die nicht bloß, wie das

8
Gesetz, einen Schatten der
zukünftigen
Güter hat, sondern
αὐτὴν τὴν εἰκόνα

9
τῶν πραγμάτων,
in so fern selbige, durch einen Spiegel im Räthsel dargestellt,

10
gegenwärtig und anschaulich gemacht werden können; denn das
τέλειον

11
liegt jenseits. Unsere Ein- und Aussichten hier sind Fragmente, Trümmer,

12
Stück- und Flickwerk –
τότε δὲ πρόσωπον προς
πρότωπον
, τότε δὲ

13
ἐπιγνώσομαι καθὼς καὶ ἐπεγνώσθην
.

14
Sehen Sie meine Luftstreiche, die ich thue, für ein Selbstgespräch an.

15
Ungeachtet ich aus Haß und Liebe zusammengesetzt bin, sind doch Freunde und

16
Feinde in meinen Augen nichts als
ein
Kuchen; denn kein Mensch kennt

17
weder die Liebe noch den Haß irgend eines, den er vor sich hat.

18
Verzeihen Sie es mir, liebster Lavater, wenn es mir vorkommt, daß Sie

19
Ihren Freunden sowohl als Feinden zu viel Ehre erweisen, und dadurch gegen

20
sich selbst ungerecht werden. Selbsterkenntniß und Selbstliebe ist das wahre

21
Maß unserer Menschenkenntniß und Menschenliebe. Aber Gott ist größer denn

22
unser Herz, und erkennt alle Dinge, auch die Gedanken, die sich unter einander

23
verklagen oder entschuldigen.

24
Was Sie in
Tauben-Einfalt
gethan, sey immer Schlangenlist für ihren

25
Samen – wir sind Gott ein guter Geruch Christi; ein Geruch des Todes zum

26
Tode, und ein Geruch des Lebens zum Leben. Er ist nicht
ungerecht
, daß er

27
vergesse unseres Werks und Arbeit der Liebe für seinen Namen, und den

28
Dienst der Heiligen. Dieser sichere und feste Anker unserer Seele geht hinein

29
in das Inwendige des Vorhangs.

30
Ihr Wink vom Inhalte des
Fingerzeiges
ist genug für mich, um alles

31
anzuwenden, daß ich ein Exemplar auftreibe. Bücherglück hat mir selten

32
gefehlt.

33
Meinem Gevatter Herder habe ich, unter vielen, auch die Empfehlung

34
Ihrer ersten Autorschaft zu verdanken. Die beiden ersten Theile Ihrer

35
Aussichten
las ich gleich bey der ersten Erscheinung. Die neueste Ausgabe und der

36
dritte Theil ist mir nie meines Wissens vor Augen gekommen, und ich warte

37
gern das Ende des Werks ab, weil ich gern das Ganze übersehen mag. So ein

S. 7
großer Bücherwurm ich auch bin, so hängt doch meine Lesesucht von Umständen

2
ab, und seit langer Zeit genieße ich einen Schriftsteller bloß, so lange ich das

3
Buch in der Hand habe. Sobald ich es zumache, fließt alles in meiner Seele

4
zusammen, als wenn mein Gedächtnis Löschpapier wäre. Ungeachtet ich von

5
Jugend auf nicht habe Wörter behalten können, so habe ich mich doch ziemlich

6
spät auf todte Sprachen gelegt, und ließ mich dünken, den Jordan mit meinem

7
Munde auszuschöpfen. Ein Collectaneen-Mann bin ich auch nicht. Ich liebe

8
mir die Titel von Büchern, die ich gelesen habe, oder noch zu lesen wünsche,

9
aufzuschreiben, und mehrentheils auf verlornen Blättern. Was Montagne

10
als ein
vir beatae memoriae
von sich selbst sagt, ist in meinen Augen kein

11
Widerspruch, sondern beynahe mein eigener Fall. Ihre
Volkslieder
habe ich

12
auch gelesen, auch manche Ihrer
vermischten Aufsätze
. Ihr
Hirtenbrief

13
an Freunde, nebst Pfenningers Apologie hat mir innig gefallen, und ersterer

14
ganz. Von Ihren Predigten noch keine Sylbe, so lüstern ich selbst durch die

15
Recensionen Ihrer Widersacher darnach geworden bin. Ich warte bloß auf

16
das Ende über meinen Leib-Propheten Jonas. Weder Ihr
Drama
noch die

17
Parodie
desselben habe ich zu sehen bekommen können, ungeachtet ich

18
jedermann seit einem Vierteljahre und länger darum gegeilt habe.

19
Wenn Sie mich also, liebster Lavater, mit einer Autorgabe erfreuen wollen,

20
so sey es nichts Großes, nichts Edles, nichts Gesuchtes, nichts Kostbares,

21
damit Sie weder meine Eifersucht als Schriftsteller, noch meine

22
Unvermögenheit, erkenntlich zu seyn, oder, deutscher zu reden, meinen Bettlerstolz

23
beunruhigen. Ich freue mich auf den letzten Theil Ihrer Physiognomik. Jeder

24
Band ist ein Fest für mich gewesen, und der 14te Julius 1776 einer der

25
merkwürdigsten meines Lebens, weil ich mich den Tag vorher für einen

26
verlornen
Menschen hielt, der keines gesunden Begriffes mehr fähig wäre – ein

27
Wurm und kein Mensch.

28
Stilling’s Jugend habe ich zum zweitenmale gelesen, mit mehr Rührung

29
als das erste mal; ich sehe aber, daß es wenigen schmeckt; zum Glück sind diese

30
wenigen meine Allerliebsten hier; für mich ist er ein
Ecce homo!
Die Welt

31
mag sich ärgern und bersten und platzen! Bey aller Ihrer
Angst
seyen Sie

32
getrost, liebster Lavater! Wie der ehrliche Mohr Ebedmelech unter den alten

33
Lumpen wühlte, hätte ich meine Hausbibel zerreißen mögen, um Ihnen ein

34
Seil des Trostes zuzuwerfen.

35
Gott, der einen Backenzahn in jenem Eselskinnbacken spaltete, daß Wasser

36
herausging für den
Durst
seines Verlobten, wird alle unsere Bedürfnisse

37
(Genes.
XXI.
19.) und Lüsternheit (2. Sam.
XXIII.
15.) stillen.

S. 8
Grüßen Sie Ihre liebe, würdige Frau und Kinder. Mehr Diät in der

2
Arbeit, mehr Umgang mit Fressern und Weinsäufern – und noch ein Kuß auf

3
Mund und Stirn von Ihrem Freund und Bruder

4
J. G. Hamann.


5
Ein für allemal keine Gesetze für unseren Briefwechsel – Jeder nach seines

6
Herzens Lust, und
à la fortune du pot.

Provenienz

Druck ZH nach Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 273–282. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort unbekannt.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 273–282.

ZH IV 3–8, Nr. 523.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
4/2
bey
]
Geändert nach dem Druck bei Roth; ZH:
bei
5/7
Actibilität
]
Geändert nach dem Druck bei Roth; ZH:
Actibilit
ät
5/7
Passibilität
]
Geändert nach dem Druck bei Roth; ZH:
Passibilit
ät
5/8
ἔμαθε
]
Geändert nach dem Druck bei Roth; ZH:
ἔπαθε
5/9
4
]
Geändert nach dem Druck bei Roth; ZH:
8
5/24
festes,
]
Geändert nach dem Druck bei Roth; ZH:
festes
6/12
πρότωπον
]
Geändert nach dem Druck bei Roth; ZH:
πρόσωπον