615
270/12
Vermerk von Hamann:

13
Erhalten den 3
Juni
am Pfingstsontage


14
Es dünkt mir selbst eine so lange Zeit, liebster H., seit ich nicht an Sie

15
geschrieben, daß ich jetzt zu einem Briefe gehe, ohne vielleicht Materie zu haben,

16
womit ich Sie erfreuen könnte. Ihren ersten Brief empfing ich am Neuen

17
Jahr auf dem Krankenbette; auf dem ich indeßen doch schon wieder so weit

18
war, daß ich ihn lesen und mich durch Ihr gutes Andenken erholen konnte.

19
Nach den Weihnachtsfeiertagen nehmlich, die ich sehr gesund durchgebracht,

20
überfiel mich plötzlich ein so starkes Kopfweh, mit Hitze und trockner

21
Betäubung, die mich ein paar Tage
alle
stark festhielt, und es hätte schlimm

22
werden können, so wie es denn bei andern Patienten der Krankheit in diesem

23
Winter übel geworden ist u. Einer davon noch jetzt kaum wieder anfängt Kräfte

24
zu bekommen; wenn nicht zum Glück ein guter Arzt u. meine ziemlich gesunde

25
Natur beizeiten das Ihrige gethan hätten, daß ich sogar auch dem

26
Phantasiren, wofür ich mich sehr fürchtete, Gottlob noch entrann und auch die

27
Kopfschwäche, die ich den ganzen Januar hindurch fühlte, sich ziemlich verlohren

28
hat. Ich brauche jetzt
die Queckenkur
mit außerordentlichem Erfolg und denke

29
mir dadurch selbst den Pyrmonter auf dieses Jahr zu ersparen. – Mit Ihrem

30
Briefe kam zugleich das zweite Heft von Mendelsohns Moses ohne Brief an

31
und 2. Gemälde vom
verstorbnen
Grafen zu Bückeburg und der mir ewig

32
lieben Gräfin, daß also mein Neujahrstag nicht ohne mancherlei Geschenke

33
von allen Seiten abging. Einige Tage drauf bekam ich freilich auch den

34
bübischen Ketzerallmanach zu lesen, der auch meinen Namen mit Koth

35
bemahlt hat – indeßen, dachte ich, so muß das Jahr anfangen –
Bona mixta

36
malis
– und so ists bisher fortgegangen u. so wirds fortgehen, bis man ins

S. 271
Grab fällt. Auch Leßings Tod gehört dazu: der mir sehr bitter gewesen ist

2
und den ich noch nicht vergeßen kann. So wenig ich mit ihm im
engen

3
Briefwechsel gestanden: so eine große Gestalt war er doch in unsrer literarischen

4
Welt für mich, die ich mir oft nahe fühlte, zumal ich ihn persönlich und sehr

5
freundschaftlich, männlich u. bieder in Hamburg kennen gelernt hatte. Wenig

6
Tage vor seinem Tode, Ende Januars, habe ich noch einen Brief von ihm u.

7
dachte nicht, daß es der letzte seyn würde. Die große Lücke steht nun da und

8
die Melchior Götze u. andre Unbeschnittene freuen sich in der Stille. Der

9
Nicolaische Trupp hat jetzt, wo möglich, noch weiter Feld: u. wie lange wirds

10
seyn, daß für Deutschland wieder ein Leßing gebohren wird? – Um mich

11
herum fühle ich eine sonderbare Wüste, da ich doch in dem Eigentlichen,

12
worüber ich reden möchte, niemand hier habe, mit dem ich sprechen kann,

13
als meine Frau. Die hiesigen
G
schönen
Geister sind so sehr weit von mir, u.

14
leben in
ihrer
Welt, in denen es ihnen sehr wohl ist, dem Erzsophisten und

15
weichen, üppigen Vertumnus, Wieland, vor allen. Von den Schweizern
bis

16
ich auf eine sonderbare Weise fortgerückt – kurz, lieber H., Sie sind mir beinah

17
noch der Einzige von Allen, mein ältester, treuer, bester, der mir noch immer

18
meine Jugendzeiten, die ich in Armuth und vergnügter Dumpfheit hinbrachte,

19
zurückruft u. an den ich mich gern so klammern möchte, wie an eine lebende

20
Dädalische Bildsäule ein Vertriebener, Umherirrender, der an ihr Jugend,

21
Freund und Vaterland wiederfindet. Bewahren Sie sich nur, Lieber, u. hüten

22
Sie sich vor dem garstigen Schwindel, daß er Sie nicht übermöge. Meine Frau,

23
ein großer Doktor, ist mit Ihrer Diät nicht zufrieden, mit den Gänsen z. E.

24
und dergleichen unverdaulichen Sachen, die alle solche Uebel befördern. Sie

25
soll Ihnen einmal eine Lebensordnung vorschreiben u. noch beßer wärs, wenn

26
Sie sich in
I
ihre
Kost und Kur gäben. Sie macht mit ihrem
Tißot
und ihrem

27
einfältigen
Angesicht große Kuren; leider aber, daß ihr Ehegemal ihr selbst

28
nicht folget. In der That, lieber H., schonen Sie sich, wenn nicht Ihret- so

29
Ihrer Kinder wegen. Mich dünkt immer, Sie fressen an sich selbst und Ihr

30
Geist überwältigt sich in Ihnen. Laßen Sie gehen, wie es geht und
I
schließen

31
Ihre Hütte zu; es ist ja auch mit uns noch nicht aller Tage Abend. Und

32
kommt der, was fehlt uns denn? Ich werde von Tag zu Tage klärer

33
überzeugt, daß in unsrer Zeit das einzige Mittel zu wirken – leiden ist, wenn man

34
nicht schmeicheln u. Tellerlecken will. Die 30. Tyrannen zu Sokrates Zeit

35
sind jetzt in die Millionen gewachsen u. in allen Ständen gehts so kunterbunt

36
her, daß einem, wenn mans sieht, Farbe u. Wort fehlet. Unser geliebteste

37
Herzog ist jetzt in Kassel, mit
HErn.
Merk, der dahin beschieden ist, die Galerie

S. 272
zu
studieren
, weil er sich von der ersten Kindheit auf für die Kunst geschaffen

2
fühlt u. glaubet. Sie sind auch in Göttingen gewesen, wie billig ist u. wer

3
weiß, wohin es in kurzem gehn wird. Kunst, Kunst, ist jetzt die Losung, der

4
alles zu Füßen liegt: süßer mystischer Opiumtraum unverstandner Ideen u.

5
Gefühle.


6
―――――――――――――――――
den 11. Mai.
So weit war dieser

7
Brief im Anfange des März geschrieben u. er blieb unter einer Reihe

8
Drückniße u. Zerstreuungen liegen, bis die glückl. Niederkunft meiner

9
Fr. kam, die ich Ihnen sogleich meldete u. gestern Ihr lieber Brief mit

10
den Schattenrißen, als ein
Monitorium
ankam, dem ich also auch gleich

11
seine Kraft geben u. vollenden will, was ich allenfalls in der Wüstenei

12
meines Kopfs u. Herzens Ihnen, wo nicht an Blumen u. Früchten, doch an

13
dürrem Laube übersenden u. melden kann.

14
Das erste ist ein Kirchen- u. Bußgebet, das ich auf höchsten Befehl, weil

15
die vorigen erbärml. waren, verfaßt habe u. das seit Ostern in Gebrauch ist.

16
Es ist nicht ohne
kleine
Reibung des ersten Ministers abgegangen, der

17
auch einige Worte eingeflickt hat; weiteres drüber zu sagen, ist nicht der Rede

18
werth: der Eine Buß- ist durch meine Veranlaßung auf den Karfreitag, der

19
hier schändl. begangen wurde, verlegt, u. dies war
caput fabulae,
aus dem

20
das andre
worden –
– Das zweite ist eine Oster Kantate, vom hiesigen

21
Kapellmeister Wolf
componi
rt
; auch nicht der Rede werth u. nur auf sein langes

22
Bestreben, aus der zieml.
H
alten
Handschrift gezogen – – Beian liegen zum

23
schönen Dank für Ihre Silhouetten, meine u. meiner Familie, die ich sogleich

24
gestern, weil eben der Silhouetteur hier war, habe verfaßen laßen. Wie sie

25
sind, weiß ich noch nicht; denn ich habe sie im Kleinen noch nicht gesehen.

26
Die Ihrige dünkt mich unkänntlich u. doch wahr, wenigstens ein braver

27
Kopf, wie Ihres Michels; den ich mich freue, im Schatten gesehn zu haben.

28
Kreuzfeld kommt mir schwach vor u. Lauson ist sehr känntlich Lauson. Ich

29
danke für Alles; u. wenn Sie zum Recompens der hiesigen Genies Wielands,

30
Göthe
ns
, Knebels, des Herzogs haben wollen, so stehn sie sogleich zu Dienst;

31
ob Sie gleich noch nicht in den großen Prophetenglauben an Silhouetten-

32
eingew.
Orakel, das Urim u. Thummim unsers Lustrum, eingeweiht

33
scheinen. – Vielleicht lege ich auch das Buch
des erreurs
gleich bei; ich habs eben

34
nicht in meiner
Hand
u. über Hals u. Kopf darnach geschrieben, weil ich

35
glaube, daß die in Ihrem Briefe blind citirte Stelle
von
Claudius daraus ist.

36
Ich komme Ihnen mit keinem Urteil über das Buch zuvor; Ihr Gefühl ist

37
reicher u. richtiger als das Meine. – Noch wollte ich Ihnen einige geschriebnen

S. 273
acta,
Mosers Entlaßung u. die schändliche Begegnung des
Conseils
gegen

2
ihn beilegen, die wir durch eine geheime HinterThür empfangen hatten.

3
Meine
Fr.
aber hat sie der Sicherheit wegen vor der Niederkunft verbrannt

4
u. sie hat Recht dran gehabt: es geht nichts über das Schändliche der

5
Begegnung. Meine Seele wird sich freuen, wenn er aus dem
J
jämmerl.
Lande heraus

6
ist u. sein Zwingenberg verkauft hat; worinn man ihm auch heiml.

7
Hinderniße in den Weg gelegt hat, um ihn so mit Ehren als einen Staatsgefangnen

8
im Lande zu haben. O Schändlichkeit der Schändlichkeiten! Der Vogel ist

9
ihnen aber allen zu mächtig u. wird sein Netz, wenn es auch sein Nest seyn

10
sollte, zerreißen u. den heißen Koth in ihr Angesicht schmeißen. Nächstens

11
drüber ein Mehrers. Er glüht von Haß u. Rache gegen die Fürsten!
solche

12
Fürsten nehml. u. im Grunde sind alle
solche
. Mich wundert, was Stark

13
dort thun wird. Man hat ihm die Schrift „
vom Zweck
des Frei M-Ordens“

14
zugeschrieben; die hier rings umher schreckl. gelesen wird –
der
ich glaubs

15
aber nicht. Der Jesuit u. Betrüger, der er überall gewesen ist, wird er auch

16
da seyn u. damit Gott empfohlen! – Jerusalem ist ein kleiner, enger,

17
politischer Kopf, ein Hofmann, Gottserbärmlich; seine Zeit wird auch ausgehen,

18
u. aus seinem Urteil mache ich mir sehr wenig. – Der Fr. M. Orden geht

19
mit einer großen Zusammenkunft schwanger, worauf der Hohepriester ihres

20
Nichts, der Herz. Ferdinand, die ganze Welt durch die Frage zubereitet:

21
„welches der
wahre
Zweck des
Fr.
M. Ord. sey?“ Alles, was Kopf haben will,

22
arbeitet drauf; u. die Mögl. u. Exsistenz der Frage selbst zeigt,
daß
was

23
an den Antworten seyn werde. Alchymie u. Magie werden ausgeschloßen in

24
den Antworten; es soll auf Tugend u. Weisheit beruhen
etc.
Gegen jene

25
soll auch Ihr alter Fritz sich neul. stark erklärt haben: denn es ist nicht zu

26
glauben, was in unserm aufgeklärten Jahrhundert die Magie insonderheit für Raum

27
gewinnt. Von Paris bis Berlin ist sie ausgebreitet, u. die Voltärianer sind

28
Hauptsproße derselben; eine Menge vornehmer, aufgeklärter Leute.
Ihr Band

29
ist Ungefähr u. ein blinder Gehorsam: keiner weiß, mit wem er zu thun hat?

30
es ist schreckliches Zeug was ich hie u. da, durch den u.
den
,
Fremden –
höre.

31
Am Rhein sind große Proselyten derselben; u. sie gehn sehr auf Proselyten

32
aus. – Der Verf. des Buchs
des erreurs
soll
Martinez
in Paris seyn; ders

33
aber nicht selbst geschrieben, sondern ein Jünger desselben, der mir auch

34
genannt ist. Der Meister soll aber mit dem Buch gar nicht zufrieden seyn. –

35
Von
Ch
Calliostro
in Strasburg werden Sie gehört haben; ich weiß aber nicht,

36
ob er zur vorigen Sekte gehöret. Das sind die Schwefelblumen der reinen

37
Vernunft, über die Kant das Gesetzbuch schreibet.

S. 274
Von der Meße habe ich noch nichts
gesehn;
auch beinah wenig zu sehen

2
Lust. Mich wundert, was in Leß. 6. u.
5. ten
Beitrage seyn werde; deren der

3
letzte erst Michael. heraus kommt.
Med
Mendels.
schreibt mir, daß seine Sachen

4
auf Befehl des Herzogs durch Schmid in Brschw. versiegelt sind u. sein

5
Bruder aus Breßl. hingereist sei, sie zu empfangen. Die Briefe sollen jedem,

6
ungelesen, zurückgeschickt werden. Ich bin neugierig, was man finden werde

7
u. hoffe es zu erfahren. Meiners hat eine Gesch. der Wiß. in Griech. u. Rom

8
geschrieben u. Adlung mancherlei über Geschichte u. Ursprung der D. Sprache.

9
Mich wundert, daß Ihnen das Phänomenon der Buchhandl. der Gelehrten

10
in Deßau noch nicht vorgekommen
ist;
mich intereßirts sehr, die Plane sind groß

11
u. gut; nur thut mirs leid, daß ich zu alt u. ausgemergelt bin,
da
dran
Theil

12
zu nehmen. Es sind schon 2. Stück ihrer Berichte heraus u. ihre Artikel sind

13
diese Meße 54.; Reichart ist auch mit ihnen. – Habe ich Ihnen von Chevilah

14
nicht das Zeitungsblatt geschickt, wo die Nachricht vom Buch stehet? So

15
will ichs thun, wenn es mir wieder in die Hände fällt. Von Ziehen habe

16
nichts weiter erhascht, als dies unwichtige Blatt, was ich beilege.
Monboddo

17
muß ein toller Kopf sein, ich kenne sein Werk nicht. – Sollte Stark wirkl. die

18
freimüthige Betrachtungen geschrieben haben; mich hat gedünkt, sie seyn

19
einem Hermes ähnlicher, der das Lehrbuch des
Χ
th. geschrieben hat. –

20
Steinbart ist in den Gött. Zeitungen außerordentl. heruntergesetzt worden, so daß

21
ihm, wie mich dünkt, selbst Unrecht geschieht. Gegen
Leß
ist er doch wahrl.

22
ein Riese. Laßen Sie sich doch das Blatt geben. – Es ist ein junger Tobler

23
aus der Schweiz hier, der hier sehr
feti
rt wird; ein Sohn des alten Toblers,

24
u. neul. ein Uebersetzer des Sophokles: ein feiner u. scharfsinniger Mensch,

25
der mir aber kein Zutrauen
inspi
riret, u. den Göthe gar den kleinen Lavater

26
genannt haben soll. Das letzte glaube oder begreife ich nicht, ob ich gleich

27
Lav. nicht persönl. kenne. – Da Sie doch das Oelzweig des Friedens von

28
Klopst. so liebhaben: so ist hier auch seine Anfrage an Bode, die mir eben

29
in die Hand fällt, mit dem Kopf des Brutus versiegelt. Ich höre, er ist für

30
seine D. Rechtschreibung so paßionirt, daß er auch in der Gesellschaft, wo

31
er sonst ein Lamm u. Engel ist, sich hierüber ereifert. – Der Herzog hieselbst

32
hat die Büttnersche Biblioth. in Göttingen gekauft; doch so, daß sie der Verf.

33
lebenslängl.
nutzt u. vermehret: ich werde sie also kaum sehn u. gebrauchen;

34
gräme mich auch nicht darüber und wünsche mir nur einen Ort der Ruhe

35
u. des innren Lebens. Hier ist nichts, nichts, nichts, als armes Treiben u.

36
Martern des Geistes; despotische Anarchie u. anarchischer Despotismus.

37
Ich ergreife wieder die Feder; werde aber kaum etwas anders, als fremde

S. 275
Relationen fortsetzen können, weil in mir u. um mich alles wüst
lie
ist. –

2
Die
Memoires
von
Rousseau
exsistiren wirkl. noch, wenigstens der Anfang,

3
bis ins 30. Jahr
etwa:
der junge Schweizer hat sie gelesen, u. einige Züge

4
mit großer Liebhaberei erzählt; sie werden der neuen Ausgabe seiner Werke

5
hinten beigefügt werden. – Der Statthalter grüßt Sie sehr u. erinnert sich

6
Ihrer mit Liebe. Er hat jetzt einen Windmeßer erfunden, u. hat bei der letzten

7
Krankheit des Bisch. in Würzburg Hoffnung gehabt, Bischof zu werden. Der

8
Bisch. ist gesund worden u. er ist Statthalter. Ich gönnte ihm das Glück sehr

9
u. habe ihm schon gesagt, wie ich mich auf seine Politische

10
Regierungswindmeßer zum Voraus freue. Er hat mir viel von obgenannter Magischer Sekte

11
erzählt u. scheint viele Glieder genau zu kennen; denkt aber von der ganzen

12
Sache, wie man denken muß. – Wer ist denn Ihre
Bondeli?
Ists die, die

13
sonst in der
Schweiz
mich dünkt, in Bern, lange gelebt hat? Wie kommt

14
Sie
sie dorthin? Sie verbinden mich sehr mit einiger nähern Nachricht. –

15
Von Hemsterhuis geht ein neues Platonisches Gespräch herum in

16
Handschrift:
Simon ou des facultés de l’ame:
es ist Simon der Lederhändler in

17
Athen, nicht der Lohgerber in Joppe; ich habe aber nichts darinn gefunden,

18
was nicht in
seine
n
r
Lettre sur l’homme et sur ses rapports
schon beßer

19
gestanden hat; auch die Grazien des Platonischen Gesprächs fehlen ihm,

20
dünkt mich, gänzlich. Die
Diotima,
die er auch in seinem
Aristée ou de la

21
divinité,
so sehr gefeiert hat, ist eine Gräfin Galizin, gebohrne Schmettau,

22
in deren Hause er lebt. Für mich ist wenig Belebendes auch in diesem Gespräch

23
gewesen. – Ich weiß nicht, ob ich Ihnen schon gemeldet habe, daß Göthe ein

24
Gespräch „in einem
Wirthshause
zu Frankfurt, an der
table d’hote“

25
geschrieben hat, wo
ein
Deutscher u. Franzose sich über des Kön. Schrift
Sur la

26
liter. Allemande
besprechen? Er hats mir zu lesen gegeben u. es sind einzelne

27
S
schöne
Gedanken drinn; das Ganze aber hat mir nicht gnuggethan u. die

28
Einfaßung nicht gefallen. Er wills Französ. übersetzen laßen u. so

29
herausgeben, wo es sich aber nicht ausnehmen
wird.
Wieland übersetzt Horaz

30
Episteln. Ich höre sie sehr rühmen, habe aber noch nichts davon gesehn u.

31
sehn mögen; weil wir sehr entfernt nach Gaßen, Denkart, Geschäft- u.

32
Lebensweise leben. Neul. hatte er in ein Stammbuch geschrieben, daß er seine
otia

33
liberrima
nicht für alles Gold u. alle Kleinode der Araber hingeben möchte;

34
ich glaube es wohl, denn die
otia liberrima
beruhen auf 1000. Thl. Pension,

35
obgleich eben nicht in Golde, u. sein Merkur bringt ihm auch in seinem

36
Seckel
noch was Ansehnliches – also. Er lebt, wie ein Prinz, vor der Stadt

37
mit Haus, Garten u. seinem weibl. Serail an Mutter, Frau, Kindern u.

S. 276
unzälichen Dienstboten. – Ob aus Andreä was werden wird, weiß ich nicht:

2
jetzt liegt er. Hahn hat mir sein Leben verschafft u. durch seine Frau

3
abschreiben laßen, ob ichs gleich aus der Wolfenb. Bibl.
eb
schon hatte. Er

4
ist vors Consistorium in Tübingen gefodert u. die Privatversammlungen ihm

5
untersagt worden; auch seinen Schriften, meint er, wird Acht aufgelegt

6
werden. Er soll ein sehr simpler Mann seyn, voll Ansehens auf seinem Dorf,

7
immer thätig u. rechnend; seine Astronomischen u. Rechenmaschinen sollen

8
bewundernswürdig viel- u. einfach seyn. Seine Theologie indeßen ist nicht

9
recht für mich. – Claudius hat seit seinem Liede auf den Reif nicht geschrieben

10
u. ich ihm sogar die Geburt unsrer Luise noch nicht gemeldet; ich wünschte,

11
daß ich bald zu ihm, obgleich nicht eben in seinen Müßiggang, ziehen dörfte;

12
indeßen verscheuche ich jeden Gedanken u. Wunsch daran, wie einen

13
Raubvogel meiner Ruhe, mir wenigstens vom Kopfe. Nacht u. Tag bin ich seit

14
einiger Zeit unruhig, ich weiß selbst nicht, woher? ohngeachtet der großen

15
Freude u. Wohlthaten, womit Gott in diesem Jahr auf mancherlei Art mein

16
Haus segnet. Er hat mich von einer tödtl. Krankheit erlöset, mich von

17
Schulden befreiet (die Briefe haben auch die letzten Bücherschulden getilgt) meiner

18
Fr. ein so glückl.
G
Kindbett gegeben, und noch bin ich wie ein Stein u.

19
wie eine Meereswelle! – Der Himmel wird mich u. mein Schicksal lenken.

20
Leben Sie wohl, lieber H.
u.
lieben Sie mich u. schreiben mir bald. Meine

21
Frau, eine verjüngte Braut, grüßt sie
herzl.
ihre Wochenvisiten sind Gottlob

22
bald zu Ende. Denn gehn meine
Kirchen
Rechnungen
an u. ich freue mich

23
auf Pfingsten, wo der erste Stoß vorbei ist, um wenigstens das „Gott gib

24
einen milden Regen“ recht herzl. u. demüthig zu singen. Urtheilen Sie selbst,

25
wie mich Ihr Brief erfreuen wird u. es mich erfreuet hätte, das Gespräch

26
Ihres Herzens über Hume zu lesen. Grüßen Sie Fischer. Goldbeck

27
habe ich noch nicht
gesehn
noch gelesen: ich glaubte nicht, daß er sobald heraus

28
käme. Eine meiner besten Freundinnen, die ich vor einem Jahr Griechisch

29
lehrte, ist nach einem sehr unglückl. Wochenbett dem Tode nah: ich wollt,

30
daß sie wieder lebte oder schon herüber wäre. Sie ist mehr ein Engel vom

31
Kinde, als ein
Weib
u. frißt sich über den Verlust ihres Kindes selbst ins

32
Grab. Sie ist eine Niece von der Gräfin
BernsDorf
, die uns fleißig besucht

33
u. eine brave Frau ist. Sonst leben wir sehr abgesondert
und
ein Zweig der

34
Bekanntschaft u. sogenannten leidigen Freundschaft verdorrt nach dem andern,

35
wenigstens in unsrer Seele. Wie ich seit 3. oder 4. Jahren seitdem ich hier

36
bin, alt u. grau geworden bin, ist unsägl. Meine Haare fallen wie Stoppeln

37
hinweg u. ich kann mit dem Scheitel kaum die Glatze mehr
decken
ein junger

S. 277
Greis vom Baume, der auf seinem Stamm verdorret. – Doch alles belebt

2
sich ja wieder u. vielleicht auch ich – wenn nicht hier, so anders wo. Frisch auf.

3
Ich umarme Sie, liebster, Einiger, Alter u. wünsche Ihnen tausendfach wohl

4
zu leben.   Ihr   ewiger

5
Herder.


6
Apropos. Kennen Sie nicht einen gewißen D. Christ. Gottl. Berger, der

7
tolles Zeug schreibt. Er hat in der Buchhandl. der Gelehrten
Antediluviana,

8
imgleichen eine allgem. Schrift- u. Redesprache, auch vom Zustande der künft.

9
Schöpfung angekündigt; ich kenne ihn aus einer Schrift übers Erkennen

10
u. Empfinden, die aber einen sonderbaren Titel hatte u. wo unter einigem

11
Vortreflichen das tolleste Geschwärm stand. Die Stelle über die Orgel im

12
4.t.
Th. der Briefe ist aus ihm. – Ich bin begierig u. beinah furchtsam auf

13
Ihr Urteil von den Briefen; wenn man
so viel
sagen will u. muß, sagt man

14
gemeinigl. nichts recht. Indeßen seys! Meine Kinder sind wohl u. Gottfried

15
hat sich hü
p
bsch erholet.
Adieu, Adieu.


16
Von Caroline Herder:

17
Innig verEhrtester Herr Gevatter.
Den 17 t Mai

18
Da ich gestern meinen frölichen Kirchgang gehalten, so kann ich nicht anders

19
u. muß Ihnen zu meinem neuvermehrten Leben die Hand reichen u. Ihnen

20
willkomen sagen! Sie gehören so ganz in unsre häußliche
Glückseligkeit,

21
hinein
daß wir allemal sogleich an Sie gedenken wenn uns was Gutes

22
wiederfährt
– Ihr Schatten ist mir unendlich lieb u. theuer, er ist mir beinah noch

23
lieber als Ihr Gemälde – u. Ihr braver Michael desgleichen. Hier haben Sie

24
ein Familienstück von uns das wir
niemand
lieber als Ihnen übersenden,

25
könnten wir einmal so lebendig bei Ihnen erscheinen. Wir sind alle sehr gut

26
getroffen, nur Gottfrieds Gesicht ist etwas noch verstellt durch eine

27
langwierige Geschwulst in der Nase, die sich noch nicht ganz verlohren. Wir rechnen

28
darauf
daß wir Ihr ganzes
Serail
bekommen werden u. sollen unsre

29
Familien so gut wie Eine nur seyn.

30
Leben Sie tausendmal wohl Liebster Gevatter u. treuer Freund.

31
Carol. Herder.


32
Von Johann Gottfried Herder:

33
Eben vor dem Abgange bekomme ich Ihren lieben Pindarischen Brief, den

34
21. Mai am Prudentiustage.
Des erreurs
ist mit Wagner fort, an den ichs

35
wenigstens mit einem sehr höfl. Briefe nach Leipz. geschickt habe. Hiebei

36
kommt also Chevilah, Zugabe u. Ankündigung: Klopstocks Zettel: u. die

S. 278
Silhouetten. Frau u. Kinder sind bis zum Sprechenden getroffen.
Meine

2
Figur ist steif, weil ich eigentlich nicht zu diesem Blatt, sondern allein stehe.

3
Ich auch ziemlich. Empfangen Sie sie freundlich u. frölich.

Provenienz

Krakau, Jagiellonenbibliothek, Slg. Autographa der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin (ehemalige Berliner Signatur: Acc. ms. 1886. 53, Nr. 22–23).

Bisherige Drucke

Herders Briefe an Joh. Georg Hamann. Im Originaltext hg. von Otto Hoffmann. Berlin 1889, 169–177.

ZH IV 270–278, Nr. 615.

Zusätze fremder Hand

270/13
Johann Georg Hamann

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
270/13
Erhalten […] Pfingstsontage]
Hinzugefügt nach der Handschrift.
270/28
die Queckenkur
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Queckenkur
270/31
verstorbnen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
verstorbenen
271/13
G
schönen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
schönen
271/15
bis
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
bin
271/26
I
ihre
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ihre
271/26
Tißot
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Tißot –
271/27
einfältigen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
einfältigem
271/30
I
schließen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
schließen
271/37
HErn.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
HErn
272/1
studieren
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
studiren
272/6
――――――――――――――――― […] Mai.]
Hinzugefügt nach der Handschrift; ZH:
——————————————
den 11. Mai.
272/16
kleine
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
eine kleine
272/20
worden –
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
worden.
272/21
componi
rt
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
componirt
272/22
H
alten
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
alten
272/34
Hand
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Hand,
273/3
Fr.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Frau
273/5
J
jämmerl.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
jämmerl.
273/13
vom Zweck
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
vom Zweck
273/21
wahre
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
wahre
273/21
Fr.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Fr
273/28
Ihr Band
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Ihr Band
273/30
den
,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
den
273/30
Fremden –
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Fremden
273/35
Ch
Calliostro
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Calliostro
274/1
gesehn;
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
gesehn,
274/2
5. ten
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
5ten
274/3
Med
Mendels.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Mendels.
274/10
ist;
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ist,
274/11
da
dran
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
dran
274/21
Leß
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Heß
274/33
lebenslängl.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
lebenslänglich
275/3
etwa:
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
etwa;
275/13
Schweiz
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Schweiz,
275/18
seine
n
r
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
seiner
275/24
Wirthshause
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Wirtshause
275/25
ein
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
eine
275/27
S
schöne
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
schöne
275/29
wird.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
wird. –
275/36
Seckel
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Säckel
276/20
u.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
und
276/21
herzl.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
herzl.,
276/22
Kirchen
Rechnungen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
KirchenRechnungen
276/27
gesehn
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
gesehn,
276/31
Weib
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Weib,
276/32
BernsDorf
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Bernsdorf
276/33
und
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
u.
276/37
decken
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
decken,
277/12
4.t.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
4t.
277/13
so viel
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
soviel
277/17
Den 17 t Mai
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Den 17 t Mai
277/20
Glückseligkeit,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Glückseligkeit
277/21
hinein
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
hinein
,
277/22
wiederfährt
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
widerfährt
277/24
niemand
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
niemand
277/28
Serail
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Serail
277/28
darauf
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
darauf,
278/1
–2
Meine Figur […] stehe.]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
(Meine Figur ist steif, weil ich eigentlich nicht zu diesem Blatt, sondern allein stehe.)